Diabetes und kardiovaskuläres Risiko – was tun, was lassen?

Sonja Böhm | 30. Mai 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Berlin – Die Konstellation ist häufig – ein Diabetes mellitus plus eine arterielle Hypertonie, oft noch in Kombination mit einer Dyslipidämie. Klar ist: Diese Patienten haben ein hohes kardiovaskuläres Risiko und benötigen einen wirksamen medikamentösen Schutz. Doch andererseits können gerade einige der kardiovaskulär wirksamsten Medikamente, etwa die Statine, aber auch Diuretika und Betablocker, einen Diabetes fördern.

Was dieses Dilemma im Endeffekt für die medikamentöse Behandlung bedeutet, und was neue Leitlinien dazu sagen, diskutierten Experten bei einer Veranstaltung der AG Diabetes und Herz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) während der DDG-Jahrestagung in Berlin [1].


Prof. Dr. Ulrich Kintscher

Geändertes Therapieziel für Patienten mit Diabetes

Seit vergangenem Sommer gibt es neue europäische Leitlinien für die Behandlung der arteriellen Hypertonie. Besonders für Patienten mit Diabetes haben sich darin die Empfehlungen im Vergleich zu früher geändert. Daran erinnerte der Hypertonie-Experte Prof. Dr. Ulrich Kintscher vom Center for Cardiovascular Research (CCR) der Charité in Berlin.

Eine Lockerung gab es vor allem beim Blutdruck-Ziel für diese Patienten. Für sie gelten jetzt ähnliche Zielwerte wie für alle anderen. Anzustreben sind laut Leitlinie Werte unter 140/85 mmHg. Den kleinen Unterschied im diastolischen Ziel von 5 mmHg zum „normalen“ Hypertonie-Patienten, für den ein Ziel von 140/90 mmHg gilt, hält Kintscher für eher „akademisch“, wie er im Gespräch mit Medscape Deutschland sagte. „Wenn wir, auch beim Patienten mit Diabetes, Werte unter 140/90 mmHg erreichen, sind wir schon sehr gut.“

Die neue europäische Leitlinie wird es in wenigen Wochen auch in Deutsch geben. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) hat sie gemeinsam mit der Deutschen Hochdruckliga (DHL) übertragen und bringt sie im Rahmen ihrer ESC Pocket Guidelines in kompakter praxisorientierter Version „für die Kitteltasche“ heraus.

Welche Antihypertensiva sind bei Diabetes tatsächlich „Firstline“?

„Wenn wir, auch
beim Patienten
mit Diabetes, Werte
unter 140/90 mmHg erreichen, sind wir schon sehr gut.“
Prof. Dr. Ulrich Kintscher

Kintscher stellte Kernaussagen des Pocket Guidelines bereits in Berlin vor – kritisierte aber im Gespräch mit Medscape Deutschland auch einige Aspekte darin. Die Empfehlung, welche Antihypertensiva für Diabetespatienten erste Wahl sind, sei zum Beispiel „etwas widersprüchlich“, wie er einräumte.

So heißt es zum einen in den Guidelines „alle antihypertensiven Substanzklassen werden empfohlen und können bei Patienten mit Diabetes eingesetzt werden“. Und weiter: „RAS-Blocker können bevorzugt werden, insbesondere bei Vorhandensein von Proteinurie und Mikroalbuminurie“. Andererseits werden dann aber im Kapitel Differenzialtherapie unter der Spalte „Diabetes mellitus“ nur noch ACE-Hemmer und Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) als „zu bevorzugende Substanzklasse“ genannt.

Auch Kintscher würde, wie er sagte, bei Patienten mit Diabetes „prinzipiell“ den Therapiestart mit einem Hemmstoff des Renin-Angiotensin-Systems (RAS) präferieren. „Es gibt die meiste Evidenz dafür.“ Um unter den RAS-Hemmstoffen selbst zu differenzieren, welche für Diabetiker eher besser oder weniger gut geeignet sind, hält er die Datenlage für nicht ausreichend.

Auch die Leitlinie macht hier keinen Unterschied – selbst wenn es einzelne negative Studien gibt, wie ROADMAP [2]. In dieser Studie mit knapp 4.500 Typ-2-Diabetespatienten hatte es – bei einem ehrgeizigen Blutdruckziel von unter 130/80 mmHg – signifikant mehr tödliche kardiovaskuläre Ereignisse (15 zu 3) unter dem ARB Olmesartan als in der Vergleichsgruppe gegeben.

Metabolisches Syndrom: ACCOMPLISH-Studie setzt Maßstäbe für die Kombination

Für Patienten mit einem Metabolischen Syndrom nennt die Leitlinie als mögliche Alternative zum Therapieeinstieg mit einem RAS-Hemmer noch die Kalziumantagonisten. Für die antihypertensive Kombinationstherapie ist die Kombination aus beidem ganz klar die Nummer 1.

Die Rationale dafür liefert die ACCOMPLISH-Studie, erläuterte Kintscher [3]. Unter den rund 11.500 Studienteilnehmern hatten 60% Diabetes. Bei ähnlicher Blutdrucksenkung war die kardiovaskuläre Ereignisrate in der Gruppe, die den ACE-Hemmer Benazepril plus Amlodipin erhalten hatte, um relativ 20% signifikant geringer als unter der Kombination von Benazepril mit Hydrochlorothiazid (HCT).

Tatsächlich sind Diuretika wie HCT nicht unbedingt die besten Antihypertensiva für Patienten mit Metabolischem Syndrom oder Diabetes, bestätigte der Experte. Sie steigern eindeutig das Diabetesrisiko. In der ALLHAT-Studie war die Diabeteshäufigkeit unter dem Thiazid Chlorthalidon um 18% höher als unter Amlodipin und sogar um 43% höher als unter dem ACE-Hemmer Lisinopril. Der mögliche Mechanismus: „Es ist mit dem Kaliumverlust unter der Thiazidtherapie verbunden“, erläuterte Kintscher: „Der Kaliumabfall korreliert mit der Diabetesinzidenz.“ 

„Bei Patienten
mit Diabetes oder Metabolischem Syndrom ist von einer antihypertensiven Therapie mit einem Betablocker Abstand zu nehmen.“
Prof. Dr. Ulrich Kintscher

Der negative Effekt auf den Glukosemetabolismus sei daher auch dosisabhängig. Gegen eine niedrig dosierte Diuretikagabe, etwa in Kombination mit einem RAS-Hemmer, sei dementsprechend auch bei Patienten mit Metabolischem Syndrom oder Diabetes nichts einzuwenden.

Betablocker eher ungeeignet – mit Ausnahmen

Ähnlich wie die Diuretika sind Betablocker für den Stoffwechsel dieser Patienten weniger geeignet. Auch unter Atenolol, Metoprolol und Propanolol verschlechtert sich die Insulinempfindlichkeit. Möglicherweise wird dieser negative Effekt bei einer gleichzeitigen peripheren Vasodilatation etwas abgemildert – zumindest gibt es eine Vergleichsstudie zwischen Metoprolol und Carvedilol: In dieser hatte Carvedilol im Effekt auf den Glukosespiegel, die Insulinsensitivität und die Progression der Mikroalbuminurie besser abgeschnitten hatte als Metoprolol [4]. Vermittelt wird der ungünstige metabolische Effekt der Betablocker unter anderem wahrscheinlich über die Gewichtszunahme unter dieser Therapie, die im Schnitt 1 bis 3 kg beträgt.

Bekanntlich sind in den britischen Guidelines aufgrund direkter Vergleichsstudien, in denen die Betablocker (meist Atenolol) anderen Antihypertensiva unterlegen waren, die Betablocker keine Firstline-Empfehlung mehr. So weit gehen die neuen europäischen Leitlinien jedoch nicht. Trotzdem rät Kintscher, bei Patienten mit Diabetes oder Metabolischem Syndrom „von einer antihypertensiven Therapie mit einem Betablocker Abstand zu nehmen“. Einzige Ausnahme: Der Diabetespatient hat zusätzlich eine KHK oder eine Herzinsuffizienz: „Dann ist der Betablocker eindeutig indiziert!“  

Schon im Jahr 2007 haben britische Autoren aufgrund von 22 Studien mit mehr als 140.000 Patienten ein Ranking zum Einfluss verschiedener Antihypertensiva auf das Diabetesrisiko erstellt. Die Metaanalyse bestätigt, dass ACE-Hemmer und ARB einen Diabetes-protektiven Effekt haben, Betablocker und Diuretika eher diabetogen und Kalziumantagonisten neutral wirken. Übrigens scheint der Aldosteroneffekt beim Diabetesschutz durch RAS-Hemmer keine Rolle zu spielen. Denn in Herzinsuffizienz-Studien mit Eplerenon zeigte sich keine protektive Wirkung des Aldosteron-Antagonisten auf das Diabetesrisiko.
Kintscher erinnerte auch nochmals daran, dass sowohl in den Leitlinien als auch von der Arzneimittelbehörde EMA ausdrücklich davor gewarnt wird, 2 RAS-Hemmstoffe in der Therapie zu kombinieren.

Dilemma auch bei den Statinen? Diabetesrisiko um fast 50 Prozent erhöht

Nicht nur einige Antihypertensiva, auch die Statine begünstigen die Entwicklung eines Diabetes. Andererseits sind aber diese Lipidsenker nachgewiesenermaßen hocheffektiv in der kardiovaskulären Protektion. Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, diskutierte Prof. Dr. Ulrich Julius, Universitätsklinikum Dresden, in seinem Beitrag auf dem Kongress.

„Der positive
Effekt einer Statintherapie auf
die kardiovaskuläre Ereignisrate überwiegt
die negativen Auswirkungen
des diabetogenen Effektes bei weitem.“
Prof. Dr. Ulrich Julius

Er erinnerte an Daten, etwa aus WHI (Women’s Health Initiative), nach denen Statine das Diabetesrisiko relativ um 48% steigern – „Das ist nicht unerheblich!“ Im Schnitt, so der Experte, sei von einer rund 20%-igen Risikoerhöhung unter der Statintherapie auszugehen – auch hier scheint das Risiko dosisabhängig zu sein, aber auch vom Wirkstoff selbst beeinflusst zu werden. Julius verwies auf Studien, nach denen das Diabetesrisiko unter Rosuvastatin am höchsten ist. In abnehmender Reihenfolge folgen dann Atorvastatin, Simvastatin, Pravastatin, Lovastatin und Fluvastatin.

Jedoch, so das eindeutige Statement des Experten: „Der positive Effekt einer Statintherapie auf die kardiovaskuläre Ereignisrate überwiegt die negativen Auswirkungen des diabetogenen Effektes bei weitem. Wir sollten einem Patienten, wenn es indiziert ist, daher ein Statin nicht vorenthalten!“ Zu erwägen sei die Statingabe für alle Patienten mit Diabetes, deren LDL-Cholesterin über 100 mg/dl liege, so der Experte. Für Patienten mit Diabetes und manifester arteriosklerotischer Erkrankung sei die Grenze sogar bei 70 mg/dl zu ziehen.

Praxisempfehlungen für die Lipidsenkung bei hohem Diabetesrisiko

Werden Patienten mit Metabolischem Syndrom (und hohem Diabetesrisiko) mit Statinen behandelt, empfahl Julius,

  • unterstützende Lebensstilmaßnahmen bei diesen Patienten besonders zu betonen,
  • ihren Glukosestoffwechsel regelmäßig zu kontrollieren,
  • ein Statin mit niedrigerem Diabetesrisiko (Lovastatin, Fluvastatin) zu bevorzugen oder bei den potenteren Statinen (Rosuvastatin und Atorvastatin) eher niedrige Dosierungen einzusetzen.
  • Die Lipidsenkung könne im Einzelfall auch durch die Kombination mit Ezetimib, das neutral bezüglich des Diabetesrisikos ist, oder Colesevelam, das sogar den Blutzucker zusätzlich senkt, ergänzt werden.

Dr. Siegfried Eckert

In seinem Schlusswort erinnerte Dr. Siegfried Eckert vom Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen, einer der Vorsitzenden der Veranstaltung, daran, dass (neben Elektrolytentgleisungen aufgrund einer falschen Diuretikatherapie) Blutungen unter einer ASS-Gabe zu den häufigsten Einweisungsgründen in Kliniken gehören. Auch hier habe sich die Einschätzung in den letzten Jahren geändert.

Die eher geringe Kardioprotektion durch Acetylsalicylsäure (ASS) wiege die Gefahren durch das erhöhte Blutungsrisiko nicht auf, betonte Eckert, so dass ASS heute – auch für Diabetiker – für die Primärprävention nicht mehr zu empfehlen sei.  

Referenzen

Referenzen

  1. 49. Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG 2014), 28. bis 31. Mai 2014, Berlin
    www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/kongresse/diabetes-kongress.html
  2. Haller H, et al: NEJM 2011;364:907-917
    http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1007994
  3. Jamerson K, et al: NEJM 2008;359:2417-2428
    http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa0806182
  4. Bakris GL, et al: JAMA. 2004;292:2227-2236
    http://dx.doi.org/10.1001/jama.292.18.2227   

Autoren und Interessenkonflikte

Sonja Böhm
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Kintscher U, Julius U, Eckert S: Es sind keine Interessenkonflikte bekannt.

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