
Eine neue Leitlinie empfiehlt zur Behandlung von Angststörungen eine Psychotherapie, vor allem die kognitive Verhaltenstherapie, und/oder Pharmakotherapie [1]. Von Benzodiazepinen wird abgeraten. Die Leitlinie soll auch dazu beitragen, dass Ärzte eine Angststörung schneller erkennen. Vor allem Hausärzten kommt hier eine besondere Verantwortung zu. Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Thomas Lichte, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Marburg und niedergelassener Hausarzt, über die richtigen Fragen an den Patienten und den Mangel an Therapieplätzen.
Medscape Deutschland: Nur rund die Hälfte aller Angsterkrankungen wird derzeit erkannt und behandelt. Müssten nicht auch Hausärzte genauer hinsehen und nachfragen?
Prof. Dr. Lichte: Das Problem besteht auf beiden Seiten. Der Arzt denkt vielleicht nicht daran, aber auch der Patient möchte lieber eine körperliche Diagnose haben. Da ist es manchmal schwierig ihm zu vermitteln, dass es auch etwas Psychisches sein kann. Deshalb ist es wichtig, das Thema zu enttabuisieren. Ich hoffe, dass wir da jetzt einen ähnliches Prozess erleben wie bei der Leitlinie Depression, die die öffentliche Debatte enorm vorangebracht hat.
Medscape Deutschland: In wie fern verbessert die neue Leitlinie praktisch etwas für den Hausarzt?
therapie ist die erste Wahl, erst als zweite Option kommt die psychodynamische Therapie.“
Prof. Dr. Lichte: Es ist wichtig, dass nun Klarheit entsteht, welche Therapie und Medikamente sich wirklich bewährt haben und zu empfehlen sind. Etwa, dass die Verhaltenstherapie die erste Wahl ist, erst als zweite Option kommt die psychodynamische Therapie. Die Leitlinie gibt Ärzten aber auch konkrete Hilfestellung an die Hand, etwa Fragen, die sie dem Patienten stellen können. Ich empfehle zum Beispiel, dass man ihn nicht zu schnell auf eine Beschreibung seiner Beschwerden festlegt. Nehmen wir an, ein Patient sagt, er hat Herzschmerzen. Dann ist es ja gar nicht sicher, dass das Herz wirklich die Ursache ist. Ich betone dann, dass er Schmerzen im Brustkorb hat, und dass das viele Ursachen haben kann. Schon ist der Patient nicht mehr so auf das Herz fixiert, und es wird leichter, auch über mögliche psychische Gründe zu sprechen.
Medscape Deutschland: Wenn der Hausarzt dann eine Angststörung feststellt – ist es sinnvoll, dass er sie selbst behandelt? Sollten Patienten nicht besser zum Facharzt oder zum Psychotherapeuten?
Prof. Dr. Lichte: Das hängt zum einen vom Patienten ab. Viele haben Scheu, zu einem Psychotherapeuten zu gehen, und möchten lieber bei ihrem Hausarzt bleiben. Zum anderen brauchen sie natürlich erst einmal einen Therapieplatz. Bei mir auf dem Land gibt es beispielsweise nur einen einzigen Verhaltenstherapeuten. Da muss der Hausarzt dann oft überbrücken. Nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit Gesprächen. Allgemeinmediziner haben eine Ausbildung in psychosomatischer Grundversorgung, die da sehr hilfreich ist. Bedauerlich ist aber, dass solche Gespräche budgetiert sind.
muss der Hausarzt
oft überbrücken – nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit Gesprächen.“
Medscape Deutschland: Die Leitlinie spricht sich klar gegen Benzodiazepine aus. Dennoch werden zur Zeit 58 % der Angst-Patienten damit behandelt. Was läuft falsch?
Prof. Dr. Lichte: Das ist ein Prozess. Vor 10 Jahren war die Verordnungsrate noch viel höher, und sie sinkt seitdem kontinuierlich. Aber was machen wir mit der 90-jährigen Dame, die das Medikament vor 30 Jahren von einem Hausarzt bekommen hat, damit sie gut schlafen kann? Dieser Patientin können wir es nicht einfach wegnehmen. Vor allem jüngere Patienten sind wesentlich stärker sensibilisiert und wissen um das Abhängigkeitspotenzial. Benzodiazepine sind aber nicht per se schlecht. In bestimmten Situationen kann es sinnvoll sein, sie für einen begrenzten Zeitraum zu nehmen. Auch da schafft die Leitlinie Klarheit.
Medscape Deutschland: Herr Prof. Dr. Lichte, wir danken für das Gespräch.