Die Kunst des Unterlassens: Ist Choosing wisely eine Option für Deutschland?

Ute Eppinger | 13. Mai 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Wiesbaden – „Choosing wisely“ (CW) nennt sich die Initiative, die 2012 in den USA gegründet wurde, und Patienten unnütze oder schädliche Behandlungen ersparen will. „Ein Modell auch für Deutschland?“, so lautete die Frage auf einer gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie veranstalteten Sitzung beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Wiesbaden [1].

„In den USA ist nicht mehr die Frage, ob Choosing wisely angewandt wird,
die Frage ist nur
noch wie.“
Sophia Schlette

Choosing wisely (CW) ist in den USA nicht nur ein Lippenbekenntnis, wie die Gesundheitswissenschaftlerin Sophia Schlette, die als Beraterin in Berlin freiberuflich tätig ist, deutlich machte [2]. 60 medizinische Fachgesellschaften in den USA beteiligen sich mittlerweile und legen fest, welche Therapien überflüssig sind. Jede Fachgesellschaft hat für sich 5 Themen festgelegt, unter denen für Ärzte und Patienten leicht verständlich festgehalten wird, was überflüssig ist und wo ein verstärkter Bedarf an Information und „Shared Decision Making“ besteht. Eines der Themen der American Geriatric Society (ACS) sind beispielsweise Antipsychotika bei dementen Patienten. Die Empfehlung dazu lautet, dass sie nicht als Mittel erster Wahl bei Verhaltensauffälligkeiten dieser Patienten eingesetzt werden sollten.

„In den USA ist nicht mehr die Frage, ob Choosing wisely angewandt wird, die Frage ist nur noch wie“, berichtete Schlette. Das Cedar-Sinai Krankenhaus hat beispielsweise120 CW-Empfehlungen in seine Clinical Decision Systems integriert. Das Anne Arundek Medical Center klärt Patienten ausführlich auch über die Risiken einer Koloskopie auf und Kaiser Permanente, in der Gesundheitsfürsorge und als Krankenversicherer tätig, setzte CW-Empfehlungen für die Radiologie um. Im April 2014 startete Choosing wisely in Kanada. Bislang sind 9 Fachgesellschaften beteiligt. Und Deutschland?

„Patienten erhalten Leistungen, die sie nicht erhalten wollten, wenn sie nur ausreichend informiert wären.“
Prof. Dr. David Klemperer

Die Probleme bestanden schon vor 25 Jahren

„Medizinisch nicht erforderliche Operationen, unterschiedliche Raten an Tonsillektomien, Kaiserschnitten, Cholezystektomien, Appendektomien und Hysterektomien, die durch Arbeitsbeschaffung, finanzielle Interessen und psychodynamische Faktoren beeinflusst werden: Ärztliches Handeln ist nicht immer medizinisch rational im wohlverstandenen Interesse der Patienten.“ Was sich liest wie ein jüngstes Statement zur Choosing-wisely-Kampagne, erschien 1989 als Leserbrief im Rheinischen Ärzteblatt und stammt von Prof. Dr. David Klemperer von der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der  Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg.  

„Über-und Fehlversorgung waren schon die Probleme vor 25 Jahren und sind es auch heute noch“, machte Klemperer deutlich.In Deutschland seien diese Probleme bislang auf wenig Resonanz gestoßen, die ärztliche Selbstverwaltung verweigere sich dem Thema. „Fachgesellschaften betrachte ich eher als Interessenvertretungen. Brisante Probleme der Über- und Fehlversorgung werden von ihnen eher nicht thematisiert“, lautete das provozierende Statement Klemperers. Auch in der Versorgungsforschung sei die Fehl- und Überversorgung bislang kaum ein Thema, kritisierte er.

Wenn der Wohnort die Intensität der Therapie bestimmt

„Patienten erhalten Leistungen, die sie nicht erhalten wollten, wenn sie nur ausreichend informiert wären“, so Klemperer. Das gelte für Stents bei koronarer Herzerkrankung oder auch für das Mammografie-Screening. „Die Frauen, die zum Mammografie-Screening eingeladen werden, erhalten zwar eine Broschüre, die ganz ordentlich gemacht ist, insgesamt aber sind sie schlecht informiert. Befragungen zeigen, dass Frauen den Nutzen der Mammografie um Einheiten von 10 bis 100 überschätzen“, erklärte Klemperer. Auch Gynäkologen selbst wiesen erschreckend wenig Wissen über den tatsächlichen Nutzen eines Mammografie-Screenings auf, lautete sein Vorwurf.  

In Deutschland bestimme oft der Wohnort, was gemacht werde. „Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, die Mandeln entfernt zu bekommen, ist in Cloppenburg/Niedersachsen achtmall höher als für ein Kind in Rosenheim/Bayern. Vergleichbare Unterschiede finden sich für Kaiserschnitte oder Bypass-Operationen“, berichtete der Experte.

„Das Problem-
bewusstsein
dafür dass, es eine Überversorgung gibt, dass wir Patienten schaden mit zu viel Therapie, ist größer als je zuvor.“
Prof. Dr. David Klemperer

Umgekehrt erhielten Patienten sinnvolle Leistungen nicht: „In den nationalen Schmerzleitlinien wird bei unspezifischen Kreuzschmerzen eine multimodale multidisziplinäre Therapie vorgeschlagen. Doch dieses Konzept ist in Deutschland nicht etabliert, stattdessen wird zunehmend an der Wirbelsäule operiert.“

Präferenzsensitive anstatt angebotssensitive Versorgung

Klemperer warb dafür, medizinische Behandlungen grundsätzlich in 3 Kategorien einzuteilen: effektiv, präferenzsensitiv oder angebotssensitiv. „Eine effektive Versorgung ist eine Versorgung, die zwingend ist, etwa Defibrillation bei Kammerflimmern oder die Insulingabe bei insulinpflichtigem Diabetes.

Eine präferenzsensitive Versorgung liegt dann vor, wenn in einer Situation mehr als eine Art der Behandlung möglich ist und aus den Behandlungsangeboten die für den Patienten sinnvollste ausgewählt wird. Das ist häufig der Fall. Viele Behandlungen, bei denen es um die Lebensqualität und um die Lebensdauer geht, sind nicht zwingend, etwa Chemotherapien bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen.“ Auch bei stabiler Angina pectoris, die medikamentös gut eingestellt ist, sei ein zusätzlicher Stent nicht notwendig.

Die angebotssensitive Versorgung hingegen funktioniere nach dem Prinzip: Besteht ein umfangreiches Angebot an Therapien , werden auch mehr Behandlungen durchgeführt.  

Dafür, dass sich Choosing wisely sich auch in Deutschland etablieren könnte, sieht Klemperer gute Chancen: „Das Problembewusstsein dafür dass, es eine Überversorgung gibt, dass wir Patienten schaden mit zu viel Therapie, ist größer als je zuvor.“ Auch strukturell seien die Voraussetzungen nicht schlecht: „Wir haben eine andere Situation als in den USA. Die stehen unter einem stärkeren ökonomischen Druck, medizinische Leistungen auszuweiten und auch die Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist in den USA sehr viel weniger verbreitet als in Deutschland.“

Als Vorteil sieht Klemperer auch, dass in Deutschland alle Akteure an einem Tisch säßen: Gemeinsamer Bundesausschuss, Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Patientenvertretungen. „Und wir haben ausgearbeitete Leitlinien von hoher Qualität und eine beginnende Kultur des Shared Decision Making. Das Kernproblem ist meiner Meinung nach die Umsetzung von Evidenzen in die Praxis – das geschieht noch zu wenig“, stellte Klemperer klar.

Leitlinien: Primär positive Empfehlungen?

Ein Behandlung womöglich zu unterlassen, also ein „Don´t do it“ – ist das überhaupt ein Thema in deutschen Leitlinien? Leitlinien sollten wesentliche Hilfen zur Entscheidungsfindung in Klinik und Praxis sein. „Sie geben uns einen Rahmen, sie ersetzen aber nicht das Denken“, betonte Dr. Manfred Gogol, Chefarzt und Ärztlicher Direktor des Krankenhauses Lindenbrunn.

Voraussetzung für einen guten Rahmen sei eine ausgewogene Darstellung erwünschter und nicht erwünschter Vorgehensweisen. Gogol ging der Frage nach, ob die deutschen Leitlinien primär positive Empfehlungen enthalten oder ob sie ausgewogen sind. Er gab zu bedenken, dass die Entscheidungskriterien für „Dos“ und „Don´ts“ bisher nicht standardisiert sind und auch die Einflussnahme Dritter (Lobbyisten) zu berücksichtigen sei.

„Das Kernproblem ist meiner Meinung nach die Umsetzung von Evidenzen in die Praxis – das geschieht noch zu wenig.“
Prof. Dr. David Klemperer

Hinzu komme: „Unsere Publikationen sind natürlich darauf ausgelegt, eher positive als negative Forschungsergebnisse zu veröffentlichen“, auch das, so Gogol, sei ein wichtiger Punkt, der bei der Aufnahme von „Not to do“ in die Leitlinien eine Rolle spiele.

Schaue man sich die Leitlinien der vergangenen 10, 12 Jahren an, zeige sich bei den S3-Leitlinien, dass immerhin mehr als 30% bereits negative Empfehlungen enthalten. „In den letzten Jahren wurden in der Systematik der Leitlinien große Fortschritte gemacht. Wir sind noch nicht da wo wir hinwollen, aber der Wandel von den eminenz- und konsensbasierten Leitlinien hin zu den evidenzbasierten Leitlinien ist deutlich.

Gogols Fazit: Gute Leitlinien könnten zur Meinungsbildung in der Debatte um Priorisierung und Posteriorisierung beitragen. Die Voraussetzung dafür sei aber die explizite Darlegung von Negativ-Empfehlungen und Entscheidungskriterien dafür, was zu tun und was zu unterlassen sei.

Referenzen

Referenzen

  1. 120. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 26. bis 29. April 2014, Wiesbaden
    „Sitzung Choosing wisely“ (29.4.2014)
    http://www.dgim2014.de
  2. Choosing wisely. An initiative for the ABIM Foundation 
    http://www.choosingwisely.org

Autoren und Interessenkonflikte

Ute Eppinger
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Schlette S: Es liegt keine Erklärung zu Interessenkonflikten vor.

Klemperer D, Gogol M: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.