Erfüllt das Mammografie-Screening die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit? „Nein“, sagt das Swiss Medical Board, eine unabhängige Einrichtung der Konferenz der Gesundheitsminister der Schweizer Kantone und der Schweizerischen Akademie für Medizinwissenschaft. Diese Institution hatte den Auftrag, die Vor- und Nachteile des Screenings anhand von Studien zu analysieren.
Ein Expertenrat aus verschiedenen Disziplinen ging unvoreingenommen an das Projekt heran. Doch je näher sich die Wissenschaftler mit dem Mammografie-Screening beschäftigten, je mehr sie nach Evidenzen für den Nutzen suchten, umso größer wurde ihre Bestürzung.
Im New England Journal of Medicine berichten jetzt 2 Mitglieder des Gremiums, Prof. Dr. Dr. Nikola Biller-Andorno, Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich, und Prof. Dr. Peter Jüni, Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) an der Universität Bern, ihre Erkenntnisse, die sie aus diesem Projekt gewonnen hatten und die Erfahrungen, die sie nach der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse machen mussten [1].
Ein hoher Preis für einen geringen Nutzen
Im Grunde ist alles bekannt: Seit Einführung des Mammografie-Screenings – ob in Deutschland, in der Schweiz oder in anderen Ländern – argumentieren sowohl Befürworter als auch Gegner mit den immer gleichen Studien, von denen die älteste vor 50 Jahren in New York und die jüngste vor 23 Jahren in Großbritannien begann. Sozusagen von der „Antike bis zum Mittelalter“ der Brustkrebsbehandlung.
Die Ära der modernen Therapie mit ihren dramatisch verbesserten Prognosen selbst bei fortgeschrittenen Mammakarzinomen wird in diesen inzwischen überholten Arbeiten nicht abgebildet. Biller-Andorno und Jüni zweifeln, ob der ohnehin sehr bescheidene Nutzen des Mammografie-Screenings, der dort nachgewiesen wurde – ein einziger verhinderter Tod durch Brustkrebs bei 2.000 Frauen innerhalb von 10 Jahren – auch heute noch zutreffen würde.
„Wir waren konsterniert darüber, dass in diesen Studien nicht klar wurde, ob der geringe Nutzen des Screenings den Schaden überwiegt.“ In jedem Fall wird der Nutzen teuer erkauft. Bei 1.000 Teilnehmerinnen erhalten 100 von ihnen Fehlbefunde, die teilweise zu „einer diagnostischen Kaskade führen von wiederholten Mammografien, Biopsien und Überdiagnosen von Karzinomen, die klinisch nie in Erscheinung getreten wären“, so die Autoren.
Die glaubwürdigsten Schätzungen zu den Überdiagnosen sehen die Experten des Swiss Medical Board in der Nationalen Kanadischen Brustkrebs-Screening-Studie. Hier zeigte sich nach 25 Jahren Follow-up, dass 106 (21,9%) von 484 Karzinomen, die durch das Screening entdeckt wurden, harmlose Tumore waren. Das heißt, fast ein Viertel der Frauen, die aufgrund des Screenings gegen Brustkrebs behandelt wurden, erhielten völlig unnötig Operationen, Radio- oder Chemotherapien (Medscape Deutschland berichtete).
Auch der Review der Cochrane Collaboration, der 10 Studien mit mehr als 600.000 Frauen umfasst, ergibt keinerlei Evidenz für einen Effekt der Reihenuntersuchungen auf die Brustkrebssterblichkeit. Im besten Fall, so Biller-Andorno und Jüni, wurde eine kleine Reduktion von Brustkrebs-Todesfällen durch den Tod aus anderen Gründen aufgehoben, so dass sich keine Änderung in der Gesamtsterblichkeit ergab. Im schlechtesten Fall hingegen wurde die Reduktion der Sterbefälle durch die Schäden des Screenings, der Strahlenbelastung und der damit verbundenen Überdiagnosen zunichte gemacht [2].
Frauen überschätzen die Vorteile des Screenings gewaltig
Besonders beunruhigt waren die Wissenschaftler über die Diskrepanz zwischen der Wirkung, die Frauen dem Mammografie-Screening zuschreiben und seiner tatsächlichen Effizienz. Fast Dreiviertel US-amerikanischer Frauen glaubten einer Untersuchung zufolge, die 2012 im Lancet erschienen ist, dass das Screening ihr Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um die Hälfte reduziere, und praktisch ebenso viele dachten, dass dadurch pro 1.000 Frauen 80 Brustkrebs-Tode vermieden würden [3].
In Deutschland ist die Diskrepanz noch dramatischer: Nach dem Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung schreiben Frauen dem Screening pro 1.000 Teilnehmerinnen im Durchschnitt 237 weniger Sterbefälle zu, fast ein Drittel meint sogar, dass die bloße Teilnahme am Screening Brustkrebs verhindere [4]. „Wie können Frauen eine informierte Entscheidung treffen, wenn sie die Vorteile des Mammografie-Screenings derart gewaltig überschätzen?“, fragen Biller-Andorno und Jüni.
In Wirklichkeit beträgt die relative Risikoreduktion rund 20%, das heißt, von 2.000 Frauen, die 10 Jahre lang alle 2 Jahre eine Mammografie machen lassen, sterben 4 an Brustkrebs, von den Frauen, die nicht am Screening teilnehmen, sterben 5 daran. Aber, wie gesagt, diese Zahlen sind alt und stammen aus Zeiten, da es weder Tamoxifen, Trastuzumab oder andere moderne Therapiemöglichkeiten gab.
Im Lichte der modernen Medizin wird auch dieser geringfügige Nutzen zweifelhaft: Das Mammakarzinom gehört zu jenen Krebsarten, die heute am besten zu behandeln sind, außerdem ist seine Sterblichkeit seit Jahren rückläufig. Das größte Risiko für Brustkrebs ist das Screening selbst mit seinen zahlreichen Überdiagnosen und Übertherapien von harmlosen Krebsvorstufen.
Aufruhr unter den Schweizer Krebsexperten
Aus den Erkenntnissen ihrer Analyse kam das Fachgremium des Swiss Medical Boards in seinem Bericht zu folgenden Empfehlungen für das Schweizer Gesundheitssystem [5]:
- Es wird nicht empfohlen, Mammografie-Screening-Programme einzuführen.
- Die bestehenden Mammografie-Screening-Programme sind zu befristen.
- Alle Formen des Mammografie-Screenings (diese schließen auch das „graue“ oder „opportunistische“ Screening mit ein) sind bezüglich ihrer Qualität zu evaluieren.
- Bei allen Formen des Mammografie-Screenings werden eine vorherige gründliche ärztliche Abklärung und eine verständliche Aufklärung mit Darstellung der erwünschten und unerwünschten Wirkungen empfohlen.
Der Report verursachte einen Aufruhr unter Schweizer Krebsexperten und Krebs-Organisationen. „Man hat uns sogar vorgeworfen, dass unsere Ergebnisse ,unethisch‘ seien und dass wir die Frauen verunsichern würden. Aber wie kann es unethisch sein, die Wahrheit offen zu kommunizieren, und wie sollte das komplett unklare Nutzen-Schaden-Verhältnis des Mammografie-Screenings die Frauen nicht verunsichern?“, fragen Biller-Andorno und Jüni im New England Journal of Medicine.
Im Gespräch mit Medscape Deutschland wird Jüni sogar noch deutlicher: „Man betont immer wieder ‚Mammografie rettet Leben’ und bezieht sich dabei auf Studien, von denen die eine Hälfte inkonsistent und nicht vertrauenswürdig ist. Die andere Hälfte zeigt eine kleine Risikoreduktion, aber absolut kein Signal auf die Gesamtsterblichkeit. Wer schaut auf die Originaldaten und interpretiert sie nach epidemiologisch sauberen Kriterien? Stattdessen wurde unser Bericht kritisiert, da er angeblich dem ‚globalen Konsens der führenden Experten’ widerspräche.“
„Nirgends wird die Diskussion so irrational geführt wie beim Mammografie-Screening“
„Das wirkliche Problem beim Screening besteht darin“, so Jüni weiter, „dass man zu viele harmlose Tumore findet. Eines von drei bis fünf in einer Screening-Mammografie detektierten Karzinomen ist überdiagnostiziert. In den Schweizer Informationsbroschüren wird das Problem der Überdiagnose nur nebenbei erwähnt. Doch für Frauen heißt das, mit der Diagnose Brustkrebs zu leben. Es heißt Operation, Radiotherapie, möglicherweise Chemotherapie mit allen Begleiterscheinungen wie Haarausfall etc. Es heißt, dass gesunde Menschen unnötigerweise krank gemacht werden. Das ist kein Kavaliersdelikt!“
11 von 26 Schweizer Kantonen laden alle 2 Jahre Frauen im Alter zwischen 50 und 69 Jahren zum Mammografie-Screening ein – wobei die französisch- und italienisch-sprechenden Kantone das Screening wesentlich stärker vorantreiben als die deutschsprachigen. Aufgrund der Empfehlungen des Swiss Medical Boards überdenkt der Kanton Uri seine Entscheidung zur Einführung.
Doch der Weg bis zur endgültigen Abschaffung ist noch weit. Jüni nennt die Gründe: „Die Kombination von pekuniären Interessen, naivem Idealismus ohne Datenkenntnis und Aktivismus macht die Angelegenheit so besonders schwierig und emotional beladen. Ich habe schon ein paar kontroverse Themen aufgegriffen, doch bei keinem verlief die Diskussion so irrational wie beim Mammografie-Screening“.
Übrigens: In Österreich wird das Mammografie-Screening soeben mit großer Emphase eingeführt.