
Wiesbaden – Harmloser Schwindel oder doch ein Schlaganfall? Bei der Hälfte aller Patienten, die über Schwindel klagen, finden Ärzte keine eindeutige Ursache – das erschwert nicht nur die Abklärung, sondern auch die Therapie. Worauf zu achten ist, erläuterten Experten verschiedener Fachdisziplinen ihren Kollegen aus der Inneren Medizin auf dem diesjährigen Internistenkongress [1]. Wie wichtig ihnen das Thema war, bezeugte die Tatsache, dass das Symposium in Wiesbaden bis auf den letzten Platz besetzt war.
„Schon der Begriff Schwindel ist im Deutschen unspezifisch“, beklagte Prof. Dr. Reinhard Dengler, Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Darunter fallen sowohl Dreh- Schwank- und Liftschwindel als auch Gleichgewichtsstörungen, Benommenheit, Lightheadedness oder präsynkopale Zustände. „Verschiedene Sinneseindrücke, die aufs Gehirn einströmen, passen nicht zueinander“, erklärte Dengler.
Etwa 30% der Menschen haben im Laufe des Lebens mindestens eine Schwindelattacke. Etwa ein Drittel aller über 65-Jährigen und etwa die Hälfte der über 75-Jährigen haben im Schnitt einmal im Monat eine Schwindelattacke. Die Ursachen sind vielfältig; die genaue Ätiologie oft unklar.
Gefährliche Ursachen schnell abklären
Zunächst gilt es, lebensbedrohliche Ursachen wie Schlaganfall auszuschließen. „Am kritischsten sind zerebrale Durchblutungsstörungen einzuschätzen, die leider häufig zu spät diagnostiziert werden“, sagte Dengler. „Wenn bei einem jüngeren Menschen, der ansonsten gesund ist, eine plötzliche Schwindelattacke auftritt, ist das Risiko eines Schlaganfalls hoch“, erklärte der Neurologe im Gespräch mit Medscape Deutschland. Ebenso sind zerebrale Durchblutungsstörungen wahrscheinlich bei Gleichgewichtsstörungenund Erbrechen. „Bei zentralem Schwindel mit Ursachen im Gehirn muss man selbstverständlich schnell handeln.“
Generell ist jedoch ein Schlaganfalls als Ursache von Schwindel oder Synkope eher unwahrscheinlich. „Hauptursachen gibt es zwar nicht“, sagte Dengler. Jedoch handele es sich in vielen Fällen um psychologischen Schwindel, der in Stresssituationen oder bei Angst auftreten kann, etwa beim phobischen Schwankschwindel.
Häufigste Form pathologischen Schwindels bei älteren Menschen ist der benigne periphere paroxysmale Lagerungsschwindel. Er tritt bei Lageveränderungen, etwa vom Liegen ins Sitzen oder Stehen, auf und wird nicht medikamentös, sondern zum Beispiel mit Körper- und Kopflagerungsübungen behandelt. „Mit Medikamenten werden harmlose Schwindelattacken nur im Ausnahmezustand therapiert“, erklärte Dengler.
Zentral dämpfendende Medikamente wie Antihistaminika wirken auch gegen Begleitsymptome wie Erbrechen. Ebenfalls kämen Anticholinergika und Antidopaminergika zum Einsatz. Zu niedriger Blutdruck könne ebenfalls Schwindel oder eine Synkope hervorrufen. „Tritt Schwindel wiederholt auf, sollte der Arzt versuchen, die Ursachen abzuklären, und Patienten zu Spezialisten wie HNO-Ärzten und Neurologen überweisen“, sagte Dengler.
Schwanken oder Drehen – eine gute Frage
Für die Differenzialdiagnose ist nicht zuletzt die genaue Kenntnis der Beschwerden und der Vorgeschichte entscheidend. „Der Weg zur Ursache des Schwindels führt über gutes Zuhören und eine strukturierte Anamnese“, erklärte Dr. Andreas Zwergal von der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo es eine Spezialambulanz für Schwindel gibt. Insgesamt 4 Eckpfeiler seien für die genaue Bezeichnung der Schwindelform entscheidend: Handelt es sich um einen Dreh- oder Schwankschwindel; um eine Attacke oder Dauerschwindel? Gibt es einen Auslöser, etwa die Veränderung der Körperlage, sowie Begleitsymptome wie Tinnitus, Übelkeit oder Doppelbilder?
zustand therapiert.“
Probleme bei der eindeutigen Abklärung bereiten die subjektiven und damit nicht eindeutigen Beschreibungen der Schwindel-Betroffenen zu der Art ihrer Beschwerden. Die kann aber entscheidend sein für Diagnose und Therapie. Manche Patienten klagen darüber, dass sie schwanken, andere haben das Gefühl, es dreht sich alles um sie herum.
Ist der vestibulo-okuläre Reflex (VOR) gestört, ist Drehschwindel über einen langen Zeitraum die Folge, etwa bei einer Neuritis vestibularis, einer akuten oder chronischen Funktionsstörung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr. Der Reflex lasse sich durch eine schnelle Kopfdrehung und die Beobachtung der Augenbewegung überprüfen, erklärte Zwergal.
Ein hochfrequenter Nystagmus zur gesunden Seite bei akuten Schwindelbeschwerden, gepaart mit Übelkeit und Erbrechen, weise auf einen Hirnstamminfarkt hin. „Das Dilemma ist: In den wenigsten Fällen entwickelt sich ein zentraler Infarkt, doch dieser ist potenziell lebensbedrohlich“, sagte der Münchner Experte und räumte ein: „Etwa 200 CTs im Jahr sind bei uns eigentlich unnötig“, sie würden nur angeordnet, „weil wir Angst haben, es könnte sich um eine ernste Erkrankung handeln.“

Schwindel und Sturzgefahr korrelieren
„In der Mehrzahl klagen ältere Menschen über Schwindel, die zudem einem höheren Sturz-, Synkopen- und Schlaganfallrisiko ausgesetzt sind und eine größere Morbidität aufweisen als jüngere Patienten“, sagte Prof. Dr. Karl-Günter Gaßmann, Leiter des Geriatrie-Zentrums im Waldkrankenhaus St. Marien in Erlangen. „Der Zusammenhang zwischen Schwindel und Stürzen ist fast linear und stellt ein riesiges Problem in der Altersmedizin dar“, sagte er.
Mehr als 80% der Stürze älterer Menschen gingen auf Schwindel zurück. Damit sei Schwindel die häufigste Sturzursache. Multiple Symptomatik, Multimorbidität und Multikausalität durch multiple auslösende Situationen erschweren die Diagnose zusätzlich. Eine Vertigo, das heißt, ein vestibulärer systematischer Drehschwindel, müsse unterschieden werden vom lokomotorischen Schwindel, unter dem ältere Menschen häufig leiden, weil die Fähigkeit korrekt zu gehen im hohen Alter abnimmt.
Dieser tritt beim Stehen, Gehen und anderen Bewegungen auf. „Die Angst zu stürzen wiederum führt zu Vermeidungsverhalten.“ Dann werde häufig phobischer Schwindel diagnostiziert. „Aber so viele Phobiker kann es im Alter gar nicht geben. Die älteren Menschen haben dann einfach Angst, sich zu bewegen.“ Zur Behebung des lokomotorischen Schwindels führt Gaßmanns Team Gang- und Balancetraining mit den Patienten durch, damit sich die Gangsicherheit verbessert.
Seine Klinik hat einen speziellen Schwindel-Fragebogen entwickeln, um die Ursache der Störung besser einzugrenzen. „Beim präsynkopalen Schwindel haben Betroffene das Gefühl, im nächsten Augenblick ohnmächtig zu werden – ihnen wird schwarz vor Augen“, erklärte Gaßmann. Ursachen hierfür können unter anderem Hypotonien, Herzrhythmusstörungen, Karotisstenosen oder Herzinsuffizienz sein.
Synkope: Was tun, wenn das Bewusstsein aussetzt?
Auch wenn das Bewusstsein tatsächlich kurzfristig aussetzt, tappen Mediziner bei der Ursachenforschung häufig im Dunkeln: In etwa 30% bliebe der Auslöser einer Synkope ungeklärt, bemerkte Prof. Dr. Markus Zabel, Kardiologe am Herzzentrum Göttingen, zur Primärabklärung der Synkope. Orthostatische Synkopen erleiden häufig ältere Patienten und werden durch einen abrupten Lagewechsel oder etwa langes Stehen ausgelöst, der die Sauerstoffversorgung des Gehirns kurzzeitig mindert. Reflektorischer Bewusstseinsverlust, etwa durch Schreck, den Anblick einer Spritze oder von Blut, sei harmlos, erklärte Zabel.
Anders ist es bei kardialen Ursachen, die in seiner Klinik 14% aller Synkopen ausmachen und nach denen Patienten häufig einen Defibrillator oder Herzschrittmacher benötigen. „Für reflektorische Synkopen sprechen junges Alter, fehlende Herzkrankheiten und ein typischer Auslöser wie langes Stehen oder Hitze“, sagte Zabel. „Kardiale Ursachen liegen dagegen eher bei älteren Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen vor.“
Er rät Hausärzten, zur Primärabklärung zunächst eine ausführliche Anamnese zu machen, bei der auch Begleitumstände des Bewusstseinsverlusts und Vorläufersymptome wie Schwindel sowie Erkrankungen in der Familie abgefragt werden. Es folgen körperliche Untersuchung, EKG und eine Blutdruckmessung im Liegen und Stehen, eventuell sogar der Schellong-Test mit mehrmaligem Messen im Liegen und Stehen.
Ist nach diesen 4 Schritten keine eindeutige Diagnose zu stellen, folgten spezielle Tests wie der Kipptischtest, eine Echokardiografie, eine elektrophysiologische Untersuchung (EPU) oder ein implantierbarer Loop-Recorder (ILR), die die Diagnose präzisieren könnten, erklärte Zabel. „Kardiale Synkopen bringen eine Mortalitätsrate von bis zu 25 Prozent mit sich“, warnte er. „Daher ist eine rasche Risikoabschätzung unabdinglich.“