
Wiesbaden – Sie sind alt, seit den 1950er-Jahren Teil der Diabetestherapie und trotzdem immer wieder für eine Überraschung gut – die Rede ist von den Sulfonylharnstoffen und dem Metformin. Diese beiden althergebrachten oralen Antidiabetika hatte Prof. Dr. Monika Kellerer, Ärztliche Direktorin am Marienhospital Stuttgart, zum Thema ihres Vortrags beim 120. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden gewählt [1].
Hypoglykämien unter Sulfonylharnstoffen – nicht zu unterschätzen
Eine Neuigkeit: Die Komplikationsrate der Behandlung mit Sulfonylharnstoffen scheint nach aktuellen Daten höher zu sein als bislang angenommen. So waren nach einer 2011 im New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie bei den durch Medikamente bedingten Krankenhauseinweisungen die Antidiabetika ganz vorne mit dabei: Nach den Vitamin-K-Antagonisten mit 33% folgte als häufigste Einzelsubstanz Insulin mit 13% und gleich dahinter die Sulfonylharnstoffe bzw. Glinide mit 11% [2].
Eine beim letzten europäischen Diabeteskongress in Barcelona vorgestellte italienische Studie hat in 46 Klinik-Notfallzentren die schweren Hypoglykämien erfasst. Ein Drittel ging auf das Konto oraler Antidiabetika, darunter wiederum vor allem Sulfonylharnstoffe und Glinide – auch in der Kombination mit Metformin, berichtete Kellerer. Dabei scheint das Risiko für eine Unterzuckerung unter den verschiedenen Sulfonylharnstoffen doch deutlich unterschiedlich zu sein: Glibenclamid verursachte zwar in der UKPD-Studie im Vergleich zum alten Chlorpropamid nur etwa halb so viele Hypoglykämien, lag aber in einer britischen Kohortenstudie im Hypoglykämierisiko um 40% höher als Gliclazid; und in einer deutschen Erhebung verursachte Glibenclamid sogar 6,5-mal so viele schwere Unterzuckerungen wie Glimepirid, so die Stuttgarter Diabetologin: „Unter den noch verfügbaren Sulfonylharnstoffen scheint beim Glibenclamid das Risiko für Unterzuckerungen am höchsten zu sein.“
Es tauchen auch immer mehr Bedenken auf, dass Sulfonylharnstoffe kardiovaskuläre Ereignisse begünstigen können. Kellerer verwies auf eine im European Heart Journal erschienene Arbeit aus 2011 [3]. Setzt man das kardiovaskuläre Risiko unter Metformin gleich 1, so ist nach dieser Auswertung unter allen Sulfonylharnstoffen das kardiovaskuläre Risiko signifikant höher. Eine Ausnahme scheint nur Gliclazid zu machen – und in dieser Untersuchung auch Repaglinid, doch waren bei diesem Glinid einfach auch die Fallzahlen in der Analyse zu niedrig, wandte Kellerer ein.
Wie gefährlich ist die Kombination? Eine „Restunsicherheit bleibt“
noch verfügbaren Sulfonylharnstoffen scheint beim Glibenclamid
das Risiko für Unterzuckerungen
am höchsten zu sein.“
Besondere Besorgnis bestand schon seit Ende der UKPD-Studie in den 1990er-Jahren bezüglich der Kombination von Metformin mit Sulfonylharnstoff. In der Subgruppe mit dieser Kombination, die allerdings nur 268 Patienten umfasste, war in UKPDS das diabetesbedingte Mortalitätsrisiko um etwa das 2-fache signifikant erhöht gewesen [4].
Eine beim Symposium „15 Jahre UKPDS“ beim letzten europäischen Diabeteskongress vorgestellte Langzeit-Auswertung gibt gewisse Entwarnung, berichtete Kellerer: Im längeren Verlauf war das Risiko der mit dieser Kombination behandelten übergewichtigen Typ-2-Diabetes-Patienten nicht mehr signifikant erhöht. Doch verwies Kellerer auch hier auf die geringen Fallzahlen und die unterschiedlichen Therapien in der Post-Studienphase: „Bei diesem Thema bleibt eine Restunsicherheit – wir benötigen bessere Daten!“
Hoffnung auf solche Daten besteht. Denn derzeit läuft die von den US-Gesundheitsbehörden NIH (National Institutes of Health) gesponserte GRADE-Studie (The Glycemia Reduction Approaches for Diabetes: A comparative Effectiveness Study). Sie vergleicht mit über 8.000 Teilnehmern eine sequenzielle Stufentherapie des Typ-2-Diabetes mit einer frühen Kombination der unterschiedlichen Behandlungsansätze. Allerdings sind die Ergebnisse nicht vor 2020/21 zu erwarten.
Metformin – alt, aber immer noch „enorm spannend“
Auch beim Metformin handele es sich „trotz des Alters um eine enorm spannende Substanz“, sagte Kellerer. Immer wieder diskutiert: die Gefahr von Laktazidosen. Wegen des Laktazidose-Risikos gilt Metformin bei Patienten mit Niereninsuffizienz mit einer eGFR (estimated Glomerular Filtration Rate) unter 60 ml/min/1,73 m² als kontraindiziert. „Ich werde immer wieder gefragt: Kann man das nicht liberalisieren?“, berichtete die Diabetologin.
Im Ausland ist man großzügiger. So setzt z.B. das britische NICE (National Institute for Health and Care Excellence) die Schwelle erst bei einer eGFR von 30 ml/min/1,73 m² an, ab 45 ml/min/1,73 m²empfehlen die Briten eine reduzierte Dosis des Biguanids. In der deutschen Versorgungsleitlinie wird auf diese Diskrepanz hingewiesen und als „weiche Empfehlung“ mit dem Label „Expertenmeinung“ heißt es dort: „Bei einer eGFR <60 ml/min/1,73 m² kann eine Metformintherapie unter besonderen Vorsichtsmaßregeln weiter geführt werden. Es wird geraten, die Nierenfunktion engmaschig zu überwachen (alle 3 bis 6 Monate)“ [5].
Bei der Laktazidose unter Metformin stelle sich manchmal die Frage: „Jagen wir ein Phantom?“, räumte die Expertin ein. In 2 Cochrane-Übersichten aus den Jahren 2006 und 2010 wurden 70.000 Patienten unter Metformin mit 50.000 ohne das Bigianid verglichen. Kellerer: „Es gab keinen Fall von Laktazidose.“
Laktazidosen unter Metformin – Phantom oder echte Gefahr?
Aus ihrer persönlichen Erfahrung wollte sie dies aber dann doch nicht so stehen lassen: „Auf unserer Station sehen wir so etwa drei Laktazidosen unter Metformin-Therapie pro Jahr.“ Hauptrisikofaktor ist dabei nicht nur nach ihrer eigenen Erfahrung, sondern auch aufgrund von Studiendaten, das Nierenversagen. Viele dieser Patienten stünden zudem unter einer Diuretikatherapie, hätten kardiale Begleiterkrankungen und häufig dann noch akute gastrointestinale Infekte, etwa mit Noroviren.
Erst im vergangenen Jahr hat die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) vor einer Zunahme der Laktazidosen in Deutschland gewarnt und betont, man könne vor dem Hintergrund der zunehmenden Spontanberichte von Metformin-assoziierten Laktazidosen keine von der aktuellen Fachinformation (GFR >60 ml/min/1,73 m²) abweichende Empfehlung für den Einsatz geben.
Kellerers Fazit: „Die Metformin-induzierte Laktazidose ist kein Phantom, aber mit vier bis neun Fällen auf 100.000 Patientenjahre ein sehr seltenes Ereignis. Doch ist die Letalität mit zehn bis 45 Prozent hoch. Bei Patienten, die die genannten Risikofaktoren aufweisen, sollte man sich daher an die Kontraindikation in der Fachinformation halten. Bei den übrigen ist eine Liberalisierung, etwa nach den Kriterien des NICE möglich, liegt aber in der Verantwortung des einzelnen Arztes.“
Biguanid-Therapie im Alter und bei Herzinsuffizienz?
Eine weitere häufige Frage ist die nach der Altersgrenze für eine Metformin-Therapie. Die gebe es nicht, sagte Kellerer. Auch über 70-Jährige können mit dem Biguanid behandelt werden. „Die Indikation wird von den Komorbiditäten bestimmt, nicht vom Alter per se.“
Bei Herzinsuffizienz und kardiovaskulären Erkrankungen z.B. zeigten aktuelle Metaanalysen, dass Diabetiker mit diesen Komorbiditäten nicht nur unter Metformin keine erhöhte Mortalität aufwiesen, sondern das Biguanid sogar günstiger als andere antidiabetische Behandlungsformen sei – und sogar bei einer linksventrikulären Auswurffraktion von ≤30% sicher ist. Eindeutig sei auf jeden Fall, dass eine Herzinsuffizienz keine Kontraindikation mehr für eine Metformin-Therapie darstelle.
Schlagzeilen hatte Metformin in den vergangenen Jahren auch wegen einer vermuteten Krebsprävention durch den Wirkstoff gemacht. Doch, so schränkte Kellerer ein, handele es sich dabei nach wie vor nur um Hinweise auf eine niedrigere Krebsinzidenz und Krebsmortalität aus Kohortenstudien, also um epidemiologische Befunde. Ein solch positiver Effekt sei „vorstellbar“, erläuterte sie, denn das Biguanid greife in Signalwege ein, die unter anderem die Zellproliferation und -apoptose beeinflussen. „Doch bislang ist nichts gesichert.“
Ähnliches gelte auch für die vermuteten günstigen kardiovaskulären Wirkungen von Metformin. Bislang gebe es dazu nur die sehr positiven Ergebnisse aus UKPDS – bei 342 Patienten. „Alle anderen Studien gingen in dieser Beziehung eher neutral aus.“ Endgültige Antworten erhofft man sich auch hier aus einer Studie, die gerade erst beginnt: GLINT soll bei 11.000 Patienten mit gestörter Glukosetoleranz (Impaired Glucose Tolerance, IGT, bzw. Impaired Fasting Glucose, IFG) Metformin gegen Placebo testen. Primärer Endpunkt werden kardiovaskuläre Ereignisse sein, sekundärer Endpunkt die Krebsinzidenz. Aber auch bei dieser Studie ist vor 2020 kaum mit Ergebnissen zu rechnen.