Überfällig ist seine Neudefinition schon seit Längerem: Jetzt ist der Startschuss für die Erprobung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs gefallen.
Jedes Jahr stellen die Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen (MDK) bei über 1,5 Millionen Menschen den Pflegebedarf im Sinne der Pflegeversicherung fest. „Die große Anzahl an Begutachtungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich in jedem einzelnen Fall um ein individuelles Schicksal handelt. Deshalb gilt: Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs muss solide und verantwortungsvoll erprobt werden“, bekräftigt Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, unter dessen Federführung jetzt 2 Studien zur Erprobung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs starten [1].
„Damit wird der erste Schritt auf dem Weg zur praktischen Einführung und damit zur spürbaren Leistungsverbesserung gemacht. Das ist ebenso richtig, wie dringend notwendig“, sagt Pfeiffer.
Bislang starres System hat „Pflege im Minutentakt“ begünstigt
„Bislang wird die Pflegebedürftigkeit in einem relativ starren System von Pflegestufen gemessen, das stark an körperlichen Beeinträchtigungen ausgerichtet ist“, räumte auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe kürzlich in Berlin ein [2].
des neuen Pflege-
bedürftigkeitsbegriffs muss solide und verantwortungsvoll erprobt werden.“
„Das heute gültige Verfahren wird aus zwei Gründen kritisiert: Zum einen wird der besondere Hilfebedarf von Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen oder mit chronisch psychischen Erkrankungen nicht umfassend genug berücksichtigt. Zum anderen hat sich die Bemessung des Hilfebedarfs nach Art, Häufigkeit und Zeitumfang nicht bewährt. Insbesondere die Ermittlung des Hilfebedarfs auf der Grundlage von Pflegeminuten ist seit langem in der Kritik und hat die ‚Pflege im Minutentakt´ begünstigt“, präzisiert Dr. Andrea Kimmel vom Team „Pflege“ des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) auf Nachfrage von Medscape Deutschland. Kimmel leitet die Erprobungsstudie zur Umsetzung des neuen Begutachtungs-Assessments.
Perspektivwechsel in der Begutachtung der Pflegebedürftigen erhofft
Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung haben in Zusammenarbeit mit Pflegewissenschaftlern der Hochschule für Gesundheit Bochum (Prof. Dr. Karl Reif) ein neues Begutachtungs-Assessment (NBA) erarbeitet. Maßstab ist nun nicht mehr der zeitliche Hilfebedarf, sondern der Grad der Selbstständigkeit bzw. die Beeinträchtigung von Selbstständigkeit und damit das Angewiesensein auf pflegerische Hilfe.
Das neue Verfahren erfasst nicht nur den „klassischen“ Hilfebedarf bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowie in der hauswirtschaftlichen Versorgung, sondern auch andere Kriterien: So nimmt das neue Verfahren auch die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, das soziale Verhalten und die psychischen Problemlagen sowie die Gestaltung von Alltagsleben und sozialen Kontakten als Kriterien mit auf. „Das NBA berücksichtigt in umfassender Weise die Problemlagen von Pflegebedürftigen“, so Kimmel. Vom neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erhofft man sich einen Perspektivenwechsel in der Begutachtung der Pflegebedürftigen.
Künftig fünf Pflegegrade statt drei Pflegestufen
Aus den Ergebnissen der Prüfung ergibt sich die Einordnung in einen der 5 Pflegegrade. Für die Studie wird bei 2.000 pflegebedürftigen Menschen eine Begutachtung nach dem neuen und dem derzeit noch gültigen Verfahren durchgeführt. Im Dezember 2014 soll die Studie abgeschlossen sein.
Parallel dazu wird Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen in Zusammenarbeit mit den MDK bundesweit in 40 Pflegeheimen bei knapp 2.000 Personen erfassen, welche Leistungen sie heute bekommen. Ziel dieses im Januar 2015 abgeschlossenen Vorhabens „Evaluation des NBA – Erfassung von Versorgungsaufwendungen in stationären Einrichtungen" ist die Schaffung einer empirischen Grundlage, um daraus die künftigen Leistungshöhen je Pflegegrad in Abhängigkeit vom Pflegeaufwand zu ermitteln.
die Ermittlung des Hilfebedarfs auf
der Grundlage von Pflegeminuten ist seit langem in der Kritik und hat die ,Pflege
im Minutentakt‘ begünstigt.“
Pfeiffer betont, dass es notwendig sei, auch die Versorgungsaufwände in der ambulanten Pflege zu ermitteln. Zwar ließen sich viele Erkenntnisse aus Rothgangs Studie auf die ambulante Pflege übertragen, „sicher ist aber auch, dass wir die Besonderheiten der häuslichen Pflege berücksichtigen müssen.“ Pfeiffer regt dazu eine kleinere Studie mit 500 Pflegebedürftigen an. Man werde das der Politik vorschlagen und stehe in den Startlöchern.
Eine Studie zur ambulanten Situation hält auch Kimmel für wünschenswert: „Aus der Studie zum stationären Versorgungsaufwand kann man nur bedingt Erkenntnisse auf den ambulanten Bereich übertragen.“
Was ändert sich für Ärzte und Angehörige?
„Für die behandelnden Ärzte ändert sich im Prinzip nichts, denn der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird kaum Eingang in deren medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapien finden“, so Kimmel. Unabhängig davon sei es aber hilfreich für die Patienten, wenn sich ihre Ärzte mit den Auswirkungen von gerontopsychiatrischen Krankheitsbildern auf Pflegebedürftigkeit und den besonderen Bedürfnissen auseinandersetzen.
Für die Angehörigen, die bereits heute pflegebedürftige Personen in der Familie haben, werde sich nichts ändern, weil ein Bestandsschutz geplant sei. Verschlechtere sich die Pflegebedürftigkeit, könne der Betroffene – wie bisher – einen Antrag bei seiner Pflegekasse stellen und die Pflegebedürftigkeit auf Grundlage des neuen NBA prüfen lassen. „Das neue Begutachtungsverfahren wird dann keine Pflegestufen, sondern Pflegegrade zum Ergebnis haben“, erklärt Kimmel.
Referentenentwurf Ende Mai im Kabinett
Die gesamte Systematik der Pflegeversicherung werde neu sortiert, betonte Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes. Er fügte hinzu: „Vor allem müssen wir den Menschen genau erklären können, wie viel Geld oder welche Sachleistungen sie künftig aufgrund welcher Begutachtung bekommen“ [3].
Am 28. Mai wird der Referentenentwurf für die Pflegereform im Kabinett beraten. Im Koalitionsvertrag hatten Union und SPD vereinbart, den Beitragssatz für die Pflegeversicherung um insgesamt 0,5 Prozentpunkte zu erhöhen. Mit 0,1 Prozentpunkten (1,2 Milliarden Euro) soll ein Pflegevorsorgefonds aufgebaut werden. 0,2 Prozentpunkte werden zur Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt und weitere 0,2 Prozentpunkte (2,4 Milliarden Euro) zur Finanzierung kurzfristiger Leistungsverbesserungen. Davon gehen 1,4 Milliarden Euro in die Pflege im häuslichen Umfeld und 1 Milliarde an Pflegeeinrichtungen, so Gröhe.
Mit 400 Millionen Euro werden Angebote zur Kurzzeit-und Verhinderungspflege, zur Tages- und Nachtpflege und deren Kombinierbarkeit unterstützt. 60 Millionen Euro sind für erhöhte Zuschüsse für einen behindertengerechten Umbau des Haushalts (von maximal 2.500 auf maximal 4.000 Euro) und für Zuschüsse für Hilfsmittel vorgesehen. 100 Millionen sind dafür vorgesehen, dass pflegenden Angehörigen eine berufliche Auszeit bezahlt werden kann.
Geplant sind 20.000 Pflegekräfte mehr
Weitere 880 Millionen Euro sind für den Ausbau von Leistungen vorgesehen. Dabei soll die Pflegeversicherung bei Leistungen, die länger als seit 2012 bestehen, um 4% angehoben werden und für Leistungen, die 2012 im Rahmen des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes eingeführt wurden, um 2,67%.
Ausgebaut werden sollen zudem die Haushalts- und Serviceleistungen im häuslichen Umfeld der Pflegebedürftigen sowie Aufwandsentschädigungen für ehrenamtlich Tätige und eine Nachbarschaftshilfe. Auch die Betreuungsrelation im stationären Bereich soll verbessert werden: Die Zahl der Pflegekräfte soll von heute 25.000 auf 45.000 steigen.