
Was könnten ein Grundschulkind, das mehrere Lungenentzündungen hintereinander durchgemacht hat, ein junger Erwachsener, der an chronischem Durchfall leidet, und ein 40-Jähriger mit Lymphom gemeinsam haben? Die Antwort: Jedem dieser Leiden könnte das variable Immundefekt-Syndrom zugrunde liegen (CVID, Common Variable ImmunoDeficiency). CVID ist der häufigste angeborene Immundefekt, dennoch „dauert es in Europa im Durchschnitt mehr als vier Jahre von den ersten Symptomen bis zur Diagnose“, kritisiert Prof. Dr. Bodo Grimbacher gegenüber Medscape Deutschland.
Eine gerade veröffentlichte Registerstudie, an der Grimbacher – Wissenschaftlicher Direktor am CCI, Centrum für Chronische Immundefizienz, des Universitätsklinikums Freiburg – maßgeblich beteiligt war, soll das ändern. Eine ihrer zentralen Aussagen: Je weniger Zeit zwischen Symptombeginn und Diagnose vergeht, desto länger überleben die Patienten mit der Krankheit [1].
„CVID gehört in das medizinische Curriculum“, fordert Grimbacher. „Alle, die sich mit den dazugehörigen Symptomen auseinandersetzen, zum Beispiel Hals-Nasen-Ohrenärzte, Pneumologen, Infektiologen, Hämatologen und Gastroenterologen, sollten diesbezüglich geschult werden.“
Viele Symptome, unterschiedliche Ursachen
Die Prävalenz für CVID liegt bei 1:25.000 bis 1:50:000. Die aktuelle Studie enthält Daten von 2.212 Patienten, die an 26 medizinischen Zentren und in 2 nationalen Registern für die Datenbank der European Society for Immunodeficiencies (ESID) in den Jahren 2004 bis 2012 gesammelt wurden. Gemeinsam haben alle Patienten, dass es ihnen an Antikörpern – den Immunglobulinen G (IgG) und an IgA und/oder IgM – mangelt. Daher sprechen die Patienten nicht auf Impfungen an. Bei allen Studienteilnehmern wurde eine sekundäre Hypogammaglobulinämie (z.B. durch Leukämie oder Medikamente) ausgeschlossen.
Manche CVID Patienten sind sogenannte Infection-only-Patienten, sie erkranken aufgrund des Antikörpermangels häufig z.B. an Mittelohr- oder Atemwegsinfekten. Andere haben zusätzlich zu den rezidivierenden Infekten eine Autoimmunerkrankung, was die Behandlung komplexer macht. Oder sie neigen zu Tumoren, die mit einer reduzierten Lebenserwartung assoziiert sind.

Bei 902 Patienten waren alle Symptome erfasst worden. In dieser Subgruppe aller Studienteilnehmer hatten 32% Pneumonien und 23% Bronchiektasen. Für den Bundesverband der Pneumologen betont Dr. Michael Barczok aus der pneumologischen Gemeinschaftspraxis Lungenzentrum Ulm, dass der Inhalt der Registerstudie ihn für das Thema sensibilisiert hat: „Das Krankheitsbild CVID kenne ich aus der Theorie schon lange, aber dass CVID dermaßen oft mit Pneumonien und Bronchiektasen einhergeht, war mir unbekannt.“
Barczoks Reaktion darauf: „Ich habe eine Arbeitsanweisung für unsere große Praxis entwickelt: Wir werden bei der Pneumonie oder Bronchiektasie jetzt die Bestimmung der Immunglobuline mit hinein nehmen, das ist eine vom Aufwand und den Kosten her vertretbare Untersuchung.“ Erhärtet sich der Verdacht, folgen weitere Untersuchungen und gegebenenfalls die Überweisung an ein auf Immundefekte spezialisiertes Zentrum.
Besonders häufig trat in der Studienpopulation eine Splenomegalie auf (bei 23% der oben erwähnten Subgruppe von 902 Patienten), weiterhin Granulome (bei 9%) und Enteropathien (bei 9%). Solide Tumoren betreffen 5%, Meningitis bzw. Enzephalitis 4% und Lymphome 3% der Patienten.
CVID dermaßen
oft mit Pneumonien und Bronchiektasen einhergeht, war mir unbekannt.“
Die Studienautoren arbeiteten heraus, welche Symptome häufig zusammenkommen: zum Beispiel Autoimmunität und Enteropathien sowie Autoimmunität und Splenomegalie. Interessanterweise war die Bronchiektasie mit keiner weiteren Komplikation assoziiert, außer solchen, die eine Lobektomie erforderlich machten, betonen die Wissenschaftler. „Erklärung könnte sein, dass die Bronchiektasie eine Folge von Infekten ist, während die anderen Komplikationen Folgen der Dysregulation des Immunsystems sind.“
Mono- oder polygenetische Defekte?
Und die Ursachen? In den meisten Fällen tappen die Experten noch im Dunkeln. Nur für 2,7% der Teilnehmer der Registerstudie ließ sich eine Mutation eines Gens nachweisen. Man macht aber große Fortschritte bei der Identifizierung der veränderten Gene, informiert Grimbacher: „Aktuell wissen wir, dass bei fünf bis zehn Prozent unserer Freiburger CVID-Patienten ein monogenetischer Defekt dahinter steckt. Wir gehen allerdings davon aus, dass sich das in den nächsten Jahren potenzieren wird."
Pädiater tun sich noch schwerer mit der Diagnose
Besonderes Augenmerk verdienen laut Grimbacher die jüngsten Patienten. Frühere Studien legten nahe, dass es zwei Zeitfenster gebe, in dem erste Symptome verstärkt auftreten: eines im Alter von 6 bis 10 Jahren, das zweite zwischen 21 und 35 Jahren [2].
In der Registerstudie stellt sich das anders dar: Bei den Neuerkrankungen im Erwachsenenalter ließ sich keine Lebensphase identifizieren, bei der es vermehrt zu ersten Symptomen kam. Bei 33,7% der Studienpopulation zeigten sich erste Symptome im Alter von unter 10 Jahren; unter diesen Patienten waren deutlich mehr Jungen als Mädchen. Grimbacher vermutet, dass bei vielen von ihnen eine X-chromosomale, monogenetische Erkrankung vorliegt. Auffällig zudem: Bei Kindern dauerte es im Durchschnitt länger als bei Erwachsenen, bis sie die Diagnose CVID bekamen.
„Dass die Kinderärzte sich schwerer mit der Diagnose taten als die Erwachsenenärzte, war ein für uns überraschendes Ergebnis der Studie“, betont Grimbacher. Seit Jahren kommunizieren Experten deutliche Hinweise auf angeborene Immundefekte bei Kindern, wie z.B. eine Häufung von Otitiden oder Sinusitiden, eine Neigung zu Abszessen oder Gedeihstörungen [3].
Grimbachers Vermutung: „Viele Kinder sind phasenweise kränklich, haben mehrere Ohrenentzündungen und häufig laufende Nasen – da auf einen Immundefekt zu schließen, fällt Kinderärzten scheinbar nicht leicht. Auch wenn man in den ersten vier Lebensjahren erniedrigte Immunglobulinspiegel findet, kann man CVID beim Kleinkind mit der transienten Hypogammaglobulinämie verwechseln, die sich auswächst.“
Sein Rat: In Verdachtsfällen sollten Pädiater ihre Patienten schneller als bislang üblich an auf Immundefekte spezialisierte Zentren überweisen, „in Deutschland gibt es etwa 26 Zentren, die Kinder behandeln.“ Einen Online-Überblick über diese vermittelt die Arbeitsgemeinschaft pädiatrische Immunologie [4].
Viel hilft (oft) viel: Immunglobulin-Gaben
Als Therapie erhalten die meisten Patienten intravenös oder subkutan Immunglobulin G, auch 80,3% der Studienteilnehmer wurden so behandelt. Hierbei zeigen sich quer durch Europa ziemliche Unterschiede: Sowohl die angestrebten Immunglobulin G-Talspiegel, also die IgG-Konzentration im Plasma vor der nächsten Infusion, als auch die individuellen Dosen, die den Patienten verabreicht werden, variieren offenbar stark.
Das Autorenteam nennt als Extrembeispiel ein tschechisches Zentrum: Das Prager Zentrum (das in der Studie eine extrem niedrige mittlere Immunglobulin-Dosis von 129 mg pro kg Körpergewicht im Monat verabreicht hatte) räumte ein, dass die Patienten aufgrund mangelnder finanzieller Übernahme der Therapiekosten durch die Krankenversicherung unterdosiert seien [1].
Im Interview mit Medscape Deutschland hebt Grimbacher hervor, dass sich die Situation in der Tschechischen Republik bereits geändert hat. „Nach unserer Erhebung sind die Kollegen aus Prag an ihre Gesundheitsämter herangetreten und haben die Umstände beklagt. Das ist zwei Jahre her. Inzwischen melden die Kollegen, dass sich die CVID-Therapie in der Tschechischen Republik deutlich gebessert hat.“ Schließlich ist in der Studie schwarz auf weiß nachzulesen: Ein höherer IgG-Talspiegel ist mit einem statistisch signifikanten Rückgang an schweren bakteriellen Infektionen assoziiert.
Die Studie zeigt auch auf: Die IgG-Therapie hat Grenzen. Ein Teil der Patienten profitiert darüber hinaus von einer antibiotischen Prophylaxe, und wer eine Autoimmunerkrankung hat, von einer Immunsuppression. Jeder dritte Patient hat eine Autoimmunerkrankung und benötigt daher beide Therapien – das sind die komplizierten Fälle. Auch invasive Eingriffe sind bei CVID-Patienten häufig – teilweise zur Diagnostik, teilweise als Folge der Erkrankung. Zu diesen Eingriffen gehören z.B. eine Lymphknotenentfernung, Organbiopsie, Knochenmarkspunktion, Gastro- oder Koloskopie, Lobektomie oder Splenektomie.
CVID kann je nach Schwere der Erkrankung die Lebenserwartung stark reduzieren, im Studienzeitraum starben 119 der Teilnehmer. Von diesen schweren Fällen, starben die mit frühem Therapiebeginn später. Zur absoluten Lebenserwartung der CVID-Patienten sagt die Studie noch nichts aus – dazu sind 10 Jahre der Beobachtung zu kurz – „zum Glück“, wie Grimbacher betont.
Er hofft, dass die Therapiemöglichkeiten für die Betroffenen immer besser werden, auch aufgrund der Identifizierung weiterer verantwortlicher Genmutationen. Aktuell arbeitet sein Team daran, bei Kollegen anderer Fachrichtungen und bei Patienten die Aufmerksamkeit für CVID zu steigern.
Bei Barczok ist das mit dem Inhalt der Registerstudie gelungen, erklärt er auf Nachfrage von Medscape Deutschland: „Die Ergebnisse der Studie finde ich sehr spannend. Noch ist CVID, anders als COPD oder Asthma, kein Thema, das in Fortbildungen von Pneumologen eine große Rolle spielt. Aber CVID sollte ins Curriculum für Erwachsenenmediziner wie für Pädiater." Er plant nun, die aktuellen Informationen zur CVID in seinem Berufsverband zu kommunizieren.