„Stress and the City“ – macht die Großstadt krank oder wirkt sie anregend?

Heike Dierbach | 9. April 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Berlin – Wer in einer Großstadt lebt, hat ein doppelt so hohes Risiko, eine Schizophrenie zu entwickeln, wie ein Landbewohner [1]. Für Depressionen beträgt der Faktor 1,4. Die Gründe dafür sind noch unklar. Ist es der Stress? Die vielen Menschen auf engem Raum? Wie können Stadtplaner gegensteuern und das urbane Leben gesünder machen?

Antworten versuchte die Veranstaltung „Stress and the City – Psychische Gesundheit in der Großstadt“ am Montag in Berlin zu finden [2]. Eingeladen hatten unter anderem die Charité und das Berliner Wissenschaftsnetz Depression.

Die Key Note Lecture hielt Prof. Dr. Richard Sennett von der New York University und der London School of Economics and Political Science. Der Soziologe betonte: „Stress wird im Englischen nicht nur als negativ verstanden. Er ist auch anregend.“

„Stress wird im Englischen nicht
nur als negativ verstanden. Er ist auch anregend.“
Prof. Dr. Richard Sennett

Sennets Analyse ist stark vom Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erik Eriksson beeinflusst. Danach muss der heranwachsende Mensch unter anderem lernen, auch mit Widersprüchen und Zweideutigkeiten in seiner Umwelt zurechtzukommen. „Städte können ihm dafür gute Voraussetzungen liefern“, sagte Sennett.

Denn sie bringen verschiedene Menschen zusammen und ermöglichen neue Erfahrungen. Andererseits führen sie aber auch dazu, dass manche Bewohner vereinsamen – was psychische Erkrankungen begünstigt. „Es kommt darauf an, wie die Stadt gestaltet wird“, so Sennett. Drei Bedingungen müssen nach seiner Analyse erfüllt sein, damit räumliche Enge psychisch produktiv wirken kann.

Abgeschlossene Quartiere bieten zu wenig Anregung

Zum ersten müssen Städte die Menschen tatsächlich zusammenbringen. „Gated communities, Siedlungen mit Zaun und Eingangskontrolle, leisten das nicht“, sagte Sennett. „Wir haben in Befragungen festgestellt, dass sich beispielsweise alte Menschen dort oft sehr isoliert fühlen. Es gibt einfach niemandem zum Reden.“

Aber auch junge Menschen bekämen offenbar zu wenig Anregungen. Teenager in gated communities in Florida zeigen eine 30% höhere Rate an Drogenmissbrauch als ihre Altergenossen in normalen Vierteln. „Es scheint, als ob das für sie der einzige Weg ist, Aufregung in ihr Leben zu bekommen.“ Auch zu wenig Stress kann also ein Risiko für die Gesundheit sein.

„Engagement wiederum ist ein wichtiger Baustein für seelische Gesundheit.“
Prof. Dr. Richard Sennett

Zweitens müssen die sozialen Zusammenhänge in Städten durchlässig sein. „Die Menschen müssen von einer Gemeinschaft zur anderen wechseln können“, betonte Sennett. Denn erst die Irritation durch Ungewohntes bringt sie dazu, sich mit ihrer Umwelt wirklich auseinanderzusetzen und sich zu engagieren. „Engagement wiederum ist ein wichtiger Baustein für seelische Gesundheit.“

Drittens muss die Stadt Räume bieten, in denen nicht schon alles geregelt ist, sondern wo der Mensch sich selbst zurechtfinden muss. Sennett berichtete von einem Versuch in den Niederlanden, bei dem in einem Viertel alle Verkehrszeichen entfernt wurden. „Das Ergebnis waren nicht mehr, sondern weniger Unfälle, weil die Fahrer viel aufmerksamer sein mussten.“ Das Ziel sei darum nicht, jeden Stress aus der Stadt zu verbannen, sondern ihn so zu gestalten, dass er die Entwicklung fördert. „Dann können Menschen auch daran wachsen.“


Dr. Mazda Adli

Das gilt aber vor allem für jene mit den richtigen Voraussetzungen. „Menschen, die bereits Risikofaktoren haben, schadet der Stress in der Stadt offenbar eher“, sagte Dr. Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité. Solche Faktoren sind etwa das Alter oder ein Migrationshintergrund. Zwar berichte kaum einer seiner Patienten, dass er sich direkt durch die Stadt gestresst fühle. „Aber der soziale Stress spielt eine große Rolle.“

Sozialer Stress entsteht nach seiner Analyse, wenn hohe Dichte und Isolation zusammenkommen. Eine Rentnerin, die ohne Kontakte allein in einem Hochhaus lebt, wäre demnach besonders gefährdet. „Doch die Datenlage dazu ist dünn“, so Adli. Nötig sei deshalb ein Schulterschluss zwischen Neurowissenschaften und anderen Disziplinen, die zu Urbanität forschen, wie Soziologie, Architektur und Politik.

Welchen Beitrag die Informatik leisten könnte, erläuterte Jens Redmer, Leiter des Bereichs Neue Produkte bei Google Deutschland. „Technisch ist es bereits möglich, Daten zum psychischen Befinden schnell mit einer existierenden Karte zu verknüpfen.“ Bereits heute gibt es Apps, die aus einem Telefongespräch heraushören, wie gestresst der Sprecher gerade ist – und diese Daten an einen zentralen Server melden. „Die Stresskarte einer Stadt könnten so in Echtzeit produziert werden.“

„Menschen, die bereits Risikofaktoren haben, schadet der Stress in der Stadt offenbar eher.“
Dr. Mazda Adli

Gezielte präventive Angebote müssen entwickeln werden

„Aber das allein löst noch kein soziales Problem“, sagte Mario Czaja, Senator für Gesundheit und Soziales in Berlin. Seine Behörde hat selbst gerade einen Sozialstrukturatlas vorgelegt, um die Verteilung von gesundheitlichen und sozialen Risiken genauer zu erfassen [3]. Angegeben sind 66 Einzelwerte wie Arbeitslosigkeit, Wohnlage, Bildung, Einkommen, aber auch die Säuglingssterblichkeit und der Anteil der Raucher. „Wir versuchen schon, präventive Angebote auf dieser Grundlage örtlich richtig zu platzieren“, sagt Czaja, „das Problem ist aber, dass die Betroffenen sie auch annehmen müssen.“ Die Erfassung allein reiche nicht, die Menschen müssten auch konkrete Hilfe erhalten: „Auf High-Tech muss High-Touch folgen.“

Auch Sennett zeigte sich skeptisch, ob die neuen Medien viel zur Lösung des Problems beitragen können. Oft lägen die Ursachen ja auf der Hand – etwa in Detroit, wo man hohe Raten von Arbeitslosigkeit findet und zugleich hohe Raten von Alkoholismus und familiärer Gewalt. „Wir müssen nicht auf Karten und Stadtpläne gucken“, sagte er, „sondern über Lösungen nachdenken.“ Auf die Frage, ob Berlin wenigstens auf dem richtigen Weg sei, gab er – diplomatisch – lieber keine Antwort.

Referenzen

Referenzen

  1. van Os et, al.: Nature 2010;468(7321):203-12
    http://dx.doi.org/10.1038/nature09563
  2. Alfred Herrhausen Gesellschaft: Diskussionsveranstaltung „Stress and the City – Psychische Gesundheit in der Großstadt“
    http://www.alfred-herrhausen-gesellschaft.de/4322.html
  3. Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales: Handlungsorientierter Sozialstrukturatlas Berlin 2013
    http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-statistik-gessoz/gesundheit/spezialberichte/gbe_spezial_2014_1_ssa2013.pdf?start&ts=1393515352&file=gbe_spezial_2014_1_ssa2013.pdf

Autoren und Interessenkonflikte

Heike Dierbach
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Sennett R, Adli M, Redmer J, Czaja M: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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