Lokal schlägt oral: Antibiotikatropfen bei Paukenröhrchen und Otorrhoe erstaunlich effektiv

Gerda Kneifel | 7. April 2014

Autoren und Interessenkonflikte


Prof. Dr. Götz Lehnerdt

Lokale Antibiotika sind deutlich wirksamer bei Kindern mit Paukenröhrchen und akuter Otorrhoe als oral verabreichte Medikamente. Das belegen niederländische Forscher nun in einer Studie, die im New England Journal of Medicine erschienen ist [1]. Die Otorrhoe bei Kindern mit Paukenröhrchen und einer unkomplizierten Otitis media konnte effektiver und etwas schneller gemildert werden.

„Die Daten sind erstaunlich, für mich ist dieser Wirkungsweg bisher kaum vorstellbar gewesen“, kommentiert Prof. Dr. Götz Lehnerdt, leitender Oberarzt der HNO-Klinik im Universitätsklinikum Essen. „Wir sind gerade auf dem Weg, Eltern zu erklären, dass sie ihre Kinder mit akuter Otitis media und Paukenröhrchen beruhigt zum Schwimmunterricht schicken können – eben weil das Wasser nicht durch das Paukenröhrchen ins Mittelohr gelangt. Wie sollen dann ein paar Tropfen Flüssigkeit durchdringen und ihre antibiotische Wirkung entfalten?“

Lokale Therapie deutlich vorne

Die niederländische Forschergruppe um Dr. Thijs van Dongen vom Universitair Medisch Centrum Utrecht rekrutierte 2 Jahre lang insgesamt 1.133 für die pragmatische Studie geeignete Kinder im Alter von 1 bis 10 Jahren mit Paukenröhrchen, die innerhalb von 14 Tagen nach Einsetzen des Röhrchens eine mindestens seit 7 Tagen andauernde Otorrhoe entwickelt hatten.

230 von ihnen wurden randomisiert in 3 Gruppen aufgeteilt: Gruppe 1 erhielt Ohrentropfen, die Hydrocortison sowie die topischen Antibiotika Colistin und Bacitracin enthielten. Von den Eltern wurden 7 Tage lang 3-mal täglich 5 Tropfen ins Ohr der Kinder geträufelt. Gruppe 2 erhielt 7 Tage lang eine orale Antibiotika-Suspension mit Amoxicillin und Clavulanat. Die dritte Gruppe wurde zunächst nur beobachtet.

„Die Daten sind erstaunlich, für
mich ist dieser Wirkungsweg bisher kaum vorstellbar gewesen.“
Prof. Dr. Götz Lehnerdt

Für 221 Kinder lagen den Forschern Tagebücher mit Informationen zur Entwicklung der Otorrhoe vor. Insgesamt, so stellen die Autoren fest, deckten sich die Informationen der Eltern zum größten Teil mit der Wahrnehmung der Ärzte.

Die Ergebnisse lassen scheinbar keine Fragen offen: Nach 2 Wochen litten nur noch 5% der Kinder aus Gruppe 1 unter der akuten Otorrhoe. Bei den Patienten, die orale Antibiotika nahmen, waren es noch 44%, bei den lediglich beobachteten Kindern waren es sogar noch 55%. Die durchschnittliche Dauer der Otorrhoe betrug bei den Kindern der ersten Gruppe 4 Tage gegenüber 5 Tagen bei Gruppe 2. Die Kinder der dritten Gruppe hatten 12 Tage mit ihr zu schaffen.

Komplikationen der zugrunde liegenden Otitis media wurden nicht beobachtet. Aber es klagte mit 21% jedes fünfte Kind der Gruppe 1 darüber, dass die Gabe der Tropfen unangenehm oder gar schmerzhaft war. Von den Kindern der Gruppe 2 litten 23% unter gastrointestinalen Beschwerden. Hautausschläge entwickelten 3% der Gruppe 1 und 4% der Gruppe 2.

Bessere Ergebnisse auch Monate danach

In einem 6-monatigen Follow-up wurde die Zahl der rekurrenten Otorrhoe-Episoden in den unterschiedlichen Gruppen gezählt sowie die Gesamtzahl der Tage mit Otorrhoe. Ebenso wurde die Lebensqualität mit einschlägigen Skalen in diesen 6 Monaten erfasst.

Demnach hatten Kinder der Gruppe 1 mit Ohrentropfen in den Folgemonaten durchschnittlich 5 Tage lang eine Otorrhoe, Kinder der Gruppe 2 litten 13,5 Tage und diejenigen ohne Medikation 18 Tage lang daran. Gruppe 1 hatte keine, Gruppen 2 und 3 hatten je eine Otorrhoe-Episode während des Follow-up. Bezüglich der Lebensqualität unterschieden sich alle 3 Gruppen nach 2-wöchiger Behandlung zunächst nicht. In der Folgezeit zeigten sich leicht günstigere Werte für die Kinder, die Ohrentropfen erhalten hatten.

Vergleicht man übrigens die systemische Antibiotika-Therapie mit der abwartenden Haltung ohne Medikation, lässt sich in Bezug auf das primäre Studienziel kein Vorteil für die Antibiotika erkennen: Nach 2-wöchiger Behandlung litten in beiden Gruppen praktisch gleich viele Kinder noch unter der Otorrhoe. Allerdings war die Dauer der initialen Otorrhoe unter systemischer Antibiotika-Therapie signifikant kürzer als in Gruppe 3.

„Die wenigen bisherigen Studien, die orale und lokale Antibiotika bei Kindern mit den gegebenen Erkrankungen verglichen, hatten entweder kleinere Patientengruppen oder methodische Limitierungen“, ordnen die niederländischen Forscher die Ergebnisse ihrer Studie ein. Zudem: „Wir definierten eine absolute Reduktion von 20% in der Inzidenz von Otorrhoe nach 2 Wochen im Vergleich mit den anderen Behandlungsmethoden als klinisch relevant. Die von uns beobachteten Werte waren sogar doppelt so hoch, was die Bedeutung unserer Resultate für die klinische Anwendung darlegt.“


Prof. Dr. Roland Laszig

Nachhaltige Wirkung kaum möglich

„Ich habe meine Zweifel an der Aussagekraft dieser Studie“, moniert Prof. Dr. Roland Laszig, geschäftsführender Direktor der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde des Universitätsklinikums Freiburg und Leiter der Sektion Hören im Deutschen Grünen Kreuz e. V. „Es gibt zum Beispiel keine Aussagen darüber, welche Paukenröhrchen benutzt wurden. Allein das Material – ob Silikon oder Metall – spielt eine große Rolle“, gibt Laszig zu bedenken.

„Silikon zum Beispiel ist ein hochkompatibles Material. Es kann sich jedoch ein Biofilm aus Proteinen bilden, die Sie mit Antibiotika nicht erreichen. Bei Entzündungen müssen Sie dann die Röhrchen entfernen. Immer häufiger werden deswegen metallische Röhrchen verwendet, etwa aus Gold oder Titan, denn sie wirken wie Bakterizide. Wir verwenden in unserer Klinik beispielsweise nur noch Titanröhrchen.“ Auch in der Universitätsklinik in Essen ist Titan das Material der Wahl.

Skepsis bezüglich der nachhaltigen Wirkung von Ohrentropfen haben die Experten auch noch aus anderen Gründen. „Die Röhrchen haben je nach ihrer Form auch unterschiedlich große Innendurchmesser, von denen – neben der Beschaffenheit der Flüssigkeit – abhängt, wie viel Flüssigkeit hindurchdringen kann. In jedem Fall muss man das Ohr regelrecht fluten“, erklärt Lehnerdt.

„Sollte dieser (lokale) Wirkungsweg dennoch funktionieren, was
die Daten bei aller Skepsis andeuten, wäre dies zu schön, um wahr zu sein.“
Prof. Dr. Götz Lehnerdt

„Und man muss die Kinder anhalten, sich bei der Verabreichung der Tropfen auf die Seite zu legen, gleichzeitig die Nase zuzuhalten und immer wieder zu schlucken, um eine Saugwirkung im Mittelohr zu erzeugen. Das dürfte gerade bei kleinen Kindern schwierig werden. Falls Ohrentropfen durchtreten, werden diese wohl kaum eine ausreichende Wirkung erreichen, um die Schleimhaut im Mastoid und der Ohrtrompete mit zu benetzen. In erster Linie entwickeln sie ihre antibiotische Wirkung im äußeren Gehörgang, denn auch das Sektret kann keimhaltig sein“, so Lehnerdt. „Sollte dieser Wirkungsweg dennoch funktionieren, was die Daten bei aller Skepsis andeuten, wäre dies zu schön, um wahr zu sein. Trotzdem gilt es zu bedenken, dass auch lokale Antibiotika bei unsachgemäßer Anwendung Resistenzen erzeugen können.“

Und es gibt noch einen weiteren Kritikpunkt: „Bei dieser Studie ist nicht im geringsten erkennbar, in welchen Konzentrationen die Wirkstoffe im Mittelohr ankommen“, gibt Laszig zu bedenken. Dass es nicht viel sein kann, dafür spricht für ihn auch die Tatsache, dass die Ohren vor der Verabreichung der Tropfen nicht vom Sekret befreit wurden. „Wie viel kann da überhaupt noch durchkommen? Da die Tropfen zu Hause von den Eltern verabreicht wurden, hat man keinerlei Kontrolle, wie viel wieder herausläuft. Auch wenn die Untersuchung in einer renommierten Zeitschrift veröffentlicht wurde – ich habe starke Zweifel bezüglich des Studiendesigns.“

Zu viele Röhrchen gesetzt?

Lokale Antibiotika spielen in Deutschland noch keine große Rolle bei der Behandlung der akuten Otitis media: „Hierzulande wird meines Wissens nicht oder kaum mit antibiotischen Ohrentropfen behandelt“, lautet denn auch die Einschätzung von Lehnerdt. Für Laszig ist die Frage, ob Antibiotika bei Otorrhoe und Otitis media gegeben werden, ohnehin keine entscheidende Frage: „Wenn sich die Entzündung nicht gibt, machen wir eher einen Trommelfellschnitt beziehungsweise nehmen die Röhrchen wieder heraus.“ [2]

„Auch wenn die Untersuchung in
einer renommierten Zeitschrift veröffentlicht
wurde – ich habe starke Zweifel bezüglich des Studiendesigns.“
Prof. Dr. Roland Laszig

Die Frage, mit der HNO-Ärzte sich hierzulande derzeit beschäftigen, bezieht sich auf das Setzen der Paukenröhrchen, da die akute Otorrhoe eine häufige Folgeerkrankung dieser Behandlung ist. Die Autoren berichten von Metaanalysen, in denen Raten von 26% gefunden wurden, bis hin zu 75% in einer randomisierten Studie, die auch asymptomatische und nicht klinisch relevante Fälle einschloss.

„Im Vergleich zu den USA etwa stellen wir die Röhrchen-Frage in Deutschland eher restriktiv“, erklärt Lehnerdt. Dennoch werden sie nach Meinung so manches Experten auch hierzulande noch immer zu häufig angewendet. „Ob sie zu oft gesetzt werden, weiß ich nicht“, so Laszig. „Aber ich werde langsam zurückhaltender, nachdem mehrere Untersuchungen gezeigt haben, dass im Sommer weniger Paukenergüsse persistieren. Ich lege deswegen im Frühjahr und Sommer weniger Röhrchen als im Winter. Das hat sich bewährt.“

Dennoch: Wenn ein Kind von 2 bis 3 Jahren über mehr als 4 Wochen schlecht hört, die Adenotomie bereits vorgenommen ist und es mit einer Schlafapnoe kämpft, dann halte ich ein Paukenröhrchen noch immer für angebracht.“

Referenzen

Referenzen

  1. van Dongen T, et al: NEJM (online) 20. Februar 2014
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa1301630
  2. Thomas JP, et al: Dtsch Arztbl Int 2014;111(9)
    http://www.aerzteblatt.de/archiv/155701/Strukturiertes-Vorgehen-bei-akuter-Otitis-media

Autoren und Interessenkonflikte

Gerda Kneifel
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Lehnerdt G, Laszig R: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

van Dongen T, et al: Angaben zu Interessenkonflikten finden sich in der Originalpublikation.

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