Ob sich Notfallmediziner bei der Behandlung eines septischen Schocks nach einem festgelegten Protokoll richten oder ob sie ohne einen solchen Algorithmus die Therapieentscheidungen fällen, ist offenbar unerheblich. So lautet zumindest das Fazit der randomisierten Multicenter-Studie ProCESS (Protocolized Care for Early Septic Shock) aus den USA, die gerade online im New England Journal of Medicine publiziert worden ist [1].

„Beliebig wird die Sepsistherapie damit aber noch lange nicht“, bekräftigt Prof. Dr. Rolf Rossaint, Direktor der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Aachen, im Gespräch mit Medscape Deutschland. Der Mediziner geht viel eher davon aus, dass die Ärzte in den 31 beteiligten Notaufnahmen der ProCESS-Studie die internationalen Leitlinien bereits verinnerlicht hatten. Als wesentliche Maßnahmen beinhalten die Leitlinien das Anlegen von Blutkulturen, Laktatwertbestimmung, Antibiotikagabe und hämodynamische Stabilisierung.
Er selbst referiere seit Jahren auf Kongressen über diese Grundprinzipien. „Zusätzliche Protokolle hatten die Ärzte vermutlich gar nicht nötig, um die wesentlichen Punkte umzusetzen“, sagt Rossaint, der gerade auf dem Deutschen Interdisziplinären Notfallmedizin Kongress (DINK 2014) in Wiesbaden die Eröffnungsrede gehalten hat [2].
Auch für die Notfallmediziner spiele die Behandlung von Sepsispatienten selbstverständlich eine nicht unerhebliche Rolle, sagt Rossaint. Denn eine Therapie muss möglichst früh und möglichst schnell eingeleitet werden. Allerdings seien die Strukturen der zentralen Notaufnahmen hierzulande nicht mit den amerikanischen vergleichbar.
„Patienten mit einer schweren Sepsis oder einem septischen Schock befinden sich in Deutschland in der Regel bereits auf der Intensivstation“, so Rossaint. In den USA, wo die finanzielle Absicherung durch eine Krankenversicherung häufig fehlt, seien Patienten, die in der Notaufnahme ankommen, dagegen nicht selten schon todkrank.
Protokoll oder nicht – die Sterblichkeit beeinflusste das nicht
Die offenbar bereits von vielen Notfall- oder Intensivmedizinern verinnerlichte Vorgehensweise bei Sepsispatienten beruht wesentlich auf einer Arbeit aus dem Jahr 2001. Darin etablierten Dr. Emmanuel Rivers und Kollegen von der Case Western Reserve University in Detroit, USA, das Konzept der Early Goal-Directed Therapy (EGDT) – ein 6-Stunden-Protokoll, bei der die hämodynamische Stabilisierung von Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock zusätzlich zu dem arteriellem Mitteldruck auch am zentralen Venendruck und der zentralvenösen Sauerstoffsättigung (ScvO2) ausgerichtet war [3].
Die Parameter dienten dann als Entscheidungsgrundlage für das Ausmaß der Volumentherapie sowie dem Einsatz von Vasopressoren, Bluttransfusionen und dem Ionotropikum Dobutamin. Zielwerte waren ein zentralvenöser Druck von 8 bis 12 mmHg, ein mittlerer arterieller Druck von mindestens 65 mmHg und eine ScvO2 von mindestens 70%. In ihrer Studie konnten sie so die 28-Tage-Letalität von Sepsispatienten von 46,5% auf 30,5% senken.
Die ProCESS-Autoren gaben den Notfallmedizinern nun unterschiedliche Vorgaben für die Behandlung von Patienten mit septischem Schock. Eine Patientengruppe (n=439) wurde nach den EGDT-Prinzipien therapiert und 446 weitere nach einem weniger aggressiven Behandlungsprotokoll, das prinzipiell nur einfache venöse Zugänge erforderte und sich an dem systolischen Blutdruck und dem jeweiligen Schock-Index orientierte.
Zusätzlich wurden 456 Patienten ohne Zuhilfenahme eines der beiden Protokolle therapiert; der behandelnde Arzt entschied selbst, welche Maßnahmen wann ergriffen werden sollten. „Die Grundprinzipien – möglichst frühzeitige Diagnose, rasche Antibiotikatherapie und zügiger Flüssigkeitsausgleich – galten allerdings für alle drei Gruppen“, bekräftigt Rossaint.
Das Ergebnis überrascht den Anästhesisten denn auch nicht: In allen Gruppen lag die Mortalität nach 60 Tagen, dem primären Endpunkt der Studie, bei rund 20%, signifikante Unterschiede ergaben sich nicht. „Wenn die Studie etwas gezeigt hat, dann wie wichtig die Implementierung – und Verinnerlichung – von Leitlinien ist“, so Rossaint.
Auch Dr. Craig M. Lilly vom UMass Memorial Medical Center in Worcester, Großbritannien, mag in einem Editorial trotz der ProCESS-Ergebnisse die Bedeutung von Protokollen oder festgelegten Entscheidungskriterien nicht infrage stellen [4]. Denn Maßnahmen wie das unverzügliche Messen des Laktatspiegels oder die Bestimmung der SIRS (Systemisches inflammatorisches Response-Syndrom)-Kriterien würden gewährleisten, dass alle Patienten eine frühestmögliche Diagnose und Therapie erhielten.
Sind die Intensivstationen heute einfach grundsätzlich besser?
Dass man das aber auch anders sehen kann, beschreibt die Autorengruppe um Dr. Kirsi-Maija Kaukonen von der Monash University in Melbourne, Australien, aktuell im Journal of the American Medical Association [5]. Laut ihrer retrospektiven Beobachtungsstudie mit Daten von 101.064 australischen und neuseeländischen Patienten reduzierte sich die Sterblichkeit der schweren Sepsis in den Jahren 2000 bis 2012 zwar von 35,0% auf 18,4%.
Da ein solcher Rückgang aber auch bei den nicht-septischen Patienten verzeichnet werden konnte, halten die Wissenschaftler es für möglich, dass die positiven Entwicklungen allein auf allgemeine Verbesserungen auf den Intensivstationen zurückzuführen sind – gänzlich unabhängig von Fortschritten in der Sepsisdiagnostik, der früheren Verabreichung von Breitbandantibiotika oder einer aggressiveren supportiven Therapie.
Lilly dürfte das anders sehen, rät aber zumindest in einem Punkt auch zum Verzicht: Das standardmäßige hämodynamische Monitoring über einen zentralen Venenkatheter sollte nach den Ergebnissen der ProCESS-Studie nicht mehr in klinischen Leitlinien empfohlen werden. Stattdessen, so Lilly, sollte man sich auf weniger kostenintensive und risikobehaftete, aber genauso effektive Alternativen konzentrieren.
Als Beispiel nennt Lilly die Bestimmung der Laktatwerte. So habe bereits eine US-amerikanische Studie vor einigen Jahren belegen können, dass die zusätzliche Messung der zentralen Sauerstoffsättigung zur Laktat-Clearance die Mortalität der stationären Sepsis-Patienten nicht weiter senken konnte [6].
Dem kann Rossaint nur bedingt zustimmen. Er meint, dass erfahrene Ärzte zwar zuweilen auf Parameter wie den zentralen Venendruck oder die zentrale Sauerstoffsättigung verzichten könnten. Für weniger erfahrene Mediziner oder Ärzte in der Ausbildung seien die Parameter aber wichtige Anhaltspunkte und die Patienten würden durch den Venenkatheter nicht gefährdet.
Auch neu: Albumin hilft nicht, und die Höhe des Zielblutdrucks spielt keine Rolle
Und noch 2 weitere Komponenten der Sepsistherapie wurden aktuell überprüft, die Ergebnisse ebenfalls online in aktuellen JAMA-Artikeln veröffentlicht – zum einen die Verwendung von Humanalbumin in der Volumentherapie und zum anderen der anzustrebende mittlere arterielle Druck.
So wird die Gabe von Humanalbumin etwa von den der internationalen Society of Critical Care Medicine und der European Society of Intensive Care Medicine in den „Surviving Sepsis Campaign Guidelines“ im Falle einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks empfohlen – also wenn ein beträchtliches kristalloides Volumen erforderlich ist [7]. Hintergrund ist die Erwägung, dass das Plasmavolumen durch das Albumin effektiver als mit Kristalloiden gesteigert werden kann.
Experten sind sich bezüglich der Effektivität dieser Maßnahme aber noch uneins, und auch in der aktuellen deutschen S2-Sepsis-Leitlinie wird etwas vorsichtiger formuliert: Demnach kann bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock eine Gabe von Humanalbumin erwogen werden [8].
Dr. Pietro Caironi, Università degli Studi di Milano, Italien, und Kollegen würden allerdings wohl mittlerweile auch von einer solchen Erwägung grundsätzlich abraten. In ihrer Open-label-Studie mit 1.818 Sepsis-Patienten konnten sie zumindest keine besseren Überlebenschancen nach 28 und 90 Tagen verzeichnen, wenn dem kristalloiden Volumenersatz 20% Albumin zugesetzt wurde [9].
Ein pauschales Urteil gegen Humanalbumin ließe sich dennoch nicht aus der Studie ableiten, meint Rossaint. „Die post-hoc-Analyse der Subgruppe mit einem septischen Schock erbrachte einen geringfügigen Vorteil für die Patienten“, sagt er. Hier würden sich denn auch weitere Studien lohnen, meinen Rossaint wie auch die Studienautoren um Caironi.
Eine allgemein anerkannte Empfehlung ist dagegen bereits das hämodynamische Zielkriterium eines mittleren arteriellen Drucks von mindestens 65 mmHg. Das Team um Dr. Pierre Asfar, Department of Medical Intensive Care, University Hospital Angers, Frankreich, und Kollegen hatte sich nun mit der Frage auseinandergesetzt, wie dieses „mindestens“ möglichst optimal bei Patienten mit einem septischen Schock interpretiert werden kann [10]. Konkret: Ob es im Hinblick auf die Sterblichkeit einen Unterschied macht, den Zieldruck bei 80 bis 85 mmHg oder 65 bis 75 mmHg festzulegen. Das Ergebnis, um es kurz zu machen: Nein, macht es nicht.