Dreiviertel aller Menschen mit saisonaler oder pandemischer Influenza zeigen keine Symptome – zumindest einer neuen Kohortenstudie namens FluWatch aus England zufolge [1]. Die Menschen sind infiziert, leiden aber nicht an Fieber, Husten oder Halsschmerzen und gehen demzufolge auch nicht zum Arzt.
„Der Anteil an asymptomatischen Infektionen ist viel höher als bisher bekannt, das hat mich überrascht“, sagt Dr. Udo Buchholz, Infektionsepidemiologe vom Robert Koch-Institut (RKI). Nationale Überwachungssysteme, die ihre Daten nur aus Arztpraxen beziehen, zeichnen demnach ein verfälschtes Bild vom Ausmaß der Grippeinfektionen.
Die Forscher der FluWatch-Studie analysierten über einen Zeitraum von 5 Jahren (2006 bis 2011) die Krankheitslast von Grippe in der englischen
Bevölkerung. Dazu untersuchten sie das Risiko einer Infektion, das Auftreten von Symptomen, die Schwere der Symptome und die Häufigkeit, mit der die Erkrankten einen Arzt aufsuchten.
Jeder erwachsene Teilnehmer wurde vor und nach einer Grippesaison um eine Blutprobe gebeten, bei Kindern zwischen 5 und 15 Jahren war die Blutabgabe freiwillig, noch jüngere Kinder mussten gar nicht an die Nadel. Ungeimpfte Personen, die nach der Grippesaison einen vierfach erhöhten Titer der jeweiligen Influenza-Antikörper im Blut aufwiesen, galten als infiziert. Zusätzlich wurden die Haushalte jede Woche per Telefon- oder Onlineumfrage zu ihrem Gesundheitszustand befragt. Wer Symptome einer Grippe aufwies, musste einen Nasenabstrich abliefern, der im Labor auf Influenza- und andere respiratorische Viren untersucht wurde.
Viele Grippekranke gehen gar nicht zum Arzt
Anhand der Blutproben sahen die Forscher, dass durchschnittlich etwa einer von 5 ungeimpften Menschen (18%) mit der saisonalen Grippe oder dem H1N1-Virus von 2009 infiziert war. Davon zeigten nur 23% Symptome, und nur 17% der Menschen, bei denen im Labor Influenza-Viren nachgewiesen worden waren, wandten sich an einen Arzt oder eine Klinik. Bei Kindern wurden in den Nasenabstrichen wesentlich häufiger Influenza-Viren gefunden als bei älteren Teilnehmern.
Die Ergebnisse zeigen, wie stark die traditionelle Überwachung, die ihre Daten von Primärversorgern bezieht, die Krankheitslast in der Bevölkerung unterschätzt. „Die angezeigten Influenza-Fälle stellen nur die Spitze eines großen klinischen und subklinischen Eisbergs dar, der für die nationale Überwachung nahezu unsichtbar ist“, sagt Hauptautor Dr. Andrew Hayward vom University College London, Großbritannien.
„Die meisten Leute gehen mit einer Grippe nicht zum Arzt. Selbst wenn sie gehen, dann wird ihre Krankheit oft nicht als Grippe diagnostiziert“, erklärt Hayward. Wenn sich aber das Monitoring einer Grippewelle nur auf die von Arztpraxen gemeldeten Fälle beschränkt, dann führt das dazu, dass die Gesamtzahl der Infektionen unterschätzt und die Schwere der Erkrankungen überschätzt wird. Denn alle milden Fälle kommen gar nicht in den Arztpraxen an.
In Deutschland sieht die Sache laut Buchholz ein wenig anders aus. „Wir stützen uns in Deutschland nicht nur auf Daten des Primärsystems, also von Allgemeinärzten und Kinderärzten, sondern beziehen auch bevölkerungsbasierte Systeme in die Gesamtbeurteilung ein. Daraus lässt sich auch ablesen, wie häufig Personen mit einer grippeähnlichen Erkrankung einen Arzt aufsuchen.“
Bei dem im Jahr 2011 gestarteten Projekt GrippeWeb sammeln die Forscher vom Robert Koch-Institut Informationen über den Gesundheitszustand in privaten Haushalten. Jeder kann mitmachen und in einem Online-Fragebogen jede Woche Auskunft darüber erteilen, ob er oder eine andere Person in seinem Haushalt an einer Atemwegserkrankung leidet. Vierteljährliche Gewinnspiele sollen die Teilnehmer zusätzlich motivieren. Das scheint zu funktionieren: Pro Woche kommen etwa 3.000 bis 3.500 Rückmeldungen.
Sobald die Medien berichten, steigt die Anzahl der Arztbesuche
Die FluWatch-Studie zeigte auch, wie stark die mediale Berichterstattung das Verhalten der Menschen beeinflusst. Als sich im Sommer 2009 die Presse mit Meldungen über die Schweinegrippe-Pandemie überschlug, suchten wesentlich mehr Menschen aufgrund von Grippesymptomen den Arzt auf. Dabei verlief H1N1 vergleichsweise mild, die saisonale Grippe H3N2 rief wesentlich stärkere Symptome hervor. „Die Überwachung von Krankheiten leidet unter sich ständig ändernden Konsultations-, Test- oder Meldepraktiken“, so Hayward.
Die Forscher hoffen, dass ihre Ergebnisse dazu beitragen, künftige Entscheidungsprozesse über Krankheitskontrolle und Pandemieplanung zu verbessern. „Genauere Messungen der gemeinschaftlichen Krankheitslast werden die Aussagekraft von Populationsmodellen erhöhen, mit deren Hilfe die Effizienz und Kosteneffektivität von Gegenmaßnahmen wie der Einsatz antiviraler Medikamente, Impfungen oder Verhaltensänderungen abgeschätzt werden“, heißt es in der Studie. Wenn nur so wenige Infizierte überhaupt Symptome zeigen, könnte das langfristig vielleicht zu geänderten Impfempfehlungen führen.
Weiterhin ungeklärt, aber von großem Interesse ist, ob grippeinfizierte Personen, die keine oder nur milde Symptome zeigen, zur Verbreitung des Virus beitragen. „Das ist die Eine-Million-Euro-Frage“, sagt Buchholz. Auch Dr. Peter William Horby vom Zentrum für tropische Medizin der Universität Oxford spricht in einem Kommentar zur FluWatch-Studie diese Frage an. „Selbst bei geringer Infektiosität könnte eine große Anzahl von Individuen, die sich frei in der Gemeinschaft bewegen, einen beträchtlichen Beitrag zur Ausbreitung der Krankheit leisten“, sagt Horby [2].