Paracetamol, während der Schwangerschaft eingenommen, könnte im frühen Kindesalter das volle Symptomspektrum der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder ADHS-ähnliche Verhaltensweisen auslösen. Forscher um Prof. Dr. Jørn Olsen vom Department of Epidemiology der University of California in Los Angeles (UCLA) haben im JAMA Pediatrics eine epidemiologische Analyse der Danish National Birth Cohort veröffentlicht, die erstmals einen entsprechenden Zusammenhang herstellt [1]. Das Ergebnis war umso deutlicher, je länger Paracetamol verwendet wurde und je fortgeschrittener die Schwangerschaft war.
„Die Studie ist interessant und auch wichtig, da sie eine weitere mögliche Nebenwirkung bespricht, die für Paracetamol so explizit bisher nicht als Verdacht im Raum stand. Aber sie haut mich nicht um“, sagt PD Dr. Christof Schaefer, Leiter des unabhängigen Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie an der Charité im Gespräch mit Medscape Deutschland. Er warnt vor falschen Schlussfolgerungen: „Paracetamol gilt nicht ab sofort als das Gift in der Schmerzmedizin.“ Nach wie vor gehöre die Substanz bei medikamentös behandlungspflichtigen Schmerzen in jeder Phase der Schwangerschaft zu den Analgetika der Wahl.
als das Gift in der Schmerzmedizin.“
Greift Paracetamol in das Hormonsystem ein?
„Paracetamol ist in den USA und vielen Ländern Europas das am häufigsten verwendete OTC -Präparat gegen Schmerzen und Fieber. In der Schwangerschaft verwenden es mehr als 50% der Frauen“, schreibt Erstautor Zeyan Liew, Epidemiologe am UCLA. Da es ebenso wie andere Medikamente plazentagängig ist, hat das Forscherteam interessiert, ob es in das mütterliche Hormonsystem eingreift und über die Induktion von oxidativem Stress die fetale Hirnentwicklung beeinflusst.
Gestützt wurde die Hypothese laut Liew und Kollegen dadurch, dass die rasante Zunahme neurologischer Entwicklungsstörungen, einschließlich ADHS, nicht allein auf Genetik oder Lebensstil zurückzuführen sein könne. „Die Forschung ist sensibilisiert für vermeidbare Umweltursachen, die während der Schwangerschaft und/oder in den ersten Lebensjahren des Kindes neurotoxisch wirken können“, so die Autoren.
Da die Zeit zwischen Konzeption und früher Kindheit ausschlaggebend für die gesundheitliche Entwicklung sei, gelte es, Risikofaktoren zu identifizieren. Endokrin aktive Substanzen wie chemische Verbindungen aus Kunststoffverpackungen, Kosmetika, elektronischen Geräten, Pestiziden oder auch Fertignahrungsmitteln gehören bekanntermaßen dazu und natürlich jegliche Art von Drogen.
die Praxis zu ändern.“
Über 60.000 Frauen befragt
64.322 Schwangere im Alter zwischen 24 und 35 Jahren, die zwischen 1996 und 2002 in die große prospektive Mutter-und-Kind-Kohortenstudie am Danish Epidemiology Science Centre aufgenommen worden waren, sind in der 12. und 30. Schwangerschaftswoche sowie 6 Monate postpartum in 3 standardisierten Telefoninterviews befragt worden: zum Analgetikagebrauch einschließlich ASS, Ibuprofen, Paracetamol als Mono- oder Kombinationspräparat; den jeweiligen Anlässen (z.B. Muskelschmerzen, Entzündungen, Infektionen, Fieber); den zeitlichen Zusammenhängen (während der gesamten Schwangerschaft oder während des 1., 2., 3. Trimenons).
Berücksichtigt wurde eine breite Palette an Confoundern wie sozioökonomischer Status, eigene psychiatrische Diagnosen bzw. Verhaltensauffälligkeiten, Schwangerschafts-BMI, Nikotin- und Alkoholkonsum. Definierte Endpunkte waren die klinische ADHS-Diagnose oder eine medikamentöse Therapie, in aller Regel mit Methylphenidat.
In einer zweiten Datenerhebung wurden 40.916 Mütter oder Erziehungsberechtigte der nunmehr 7-jährigen Kinder mit ADHS-ähnlichen Verhaltensweisen gebeten, den standardisierten Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) zum Verhalten der Kinder in den letzten 6 Monaten zu beantworten. Mit dem SDQ werden 25 Merkmale zu Verhaltensauffälligkeiten und -stärken bei Heranwachsenden zwischen 4 und 16 Jahren abgefragt. Das Follow-up endete ca. 3 Jahre später.
Kausalität nicht nachweisbar
Die Ergebnisse: Über die Hälfte der befragten Mütter hatten während der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen. Für diese Gruppe betrug die Hazard Ratio
- für die klinische ADHS-Diagnose der Kinder 1,37 (95%-KI: 1,19–1,59),
- für die Verwendung von ADHS-Medikamenten 1,29 (95%-KI: 1,15–1,44) und
- für ADHS-ähnliche Verhaltensweisen der Kinder im Alter von 7 Jahren 1,13 (95%-KI: 1,01–1,27).
Dies jeweils mit steigender Tendenz, wenn die Frauen mehr als 20 Wochen das Analgetikum verwendet hatten.
nicht unkritisch wochenlang eingenommen werden.“
Die Autoren finden damit ihre Hypothese bestätigt, dass Paracetamol während der Schwangerschaft das Risiko für alle definierten Endpunkte erhöht. Ob die Einnahme des Medikaments aber tatsächlich ursächlich für die Entwicklung der hyperkinetischen Störung war, sei mit dieser epidemiologischen Studie nicht zu beantworten, räumen sie ein.
Einschränkend sei auch, dass Angaben zur Dosis-Wirkungs-Beziehung fehlen, da die werdenden Mütter nichts zu den eingenommenen Dosierungen sagen konnten. Und 28% machten keine Angaben dazu, in welchen Schwangerschaftswochen sie das Mittel genommen hatten. Aufgrund dieser und weiterer Limitationen schlagen Liew und Kollegen eine Wiederholung der Studie vor. Zudem müssten weitere Studien einen kausalen Zusammenhang untersuchen.
Alles bleibt, wie es ist
„Diese Studie hat einige bemerkenswerte methodische Stärken. Der Analgetika-Verbrauch wurde prospektiv bewertet …, Liew et al. untersuchten eine sehr große Kohorte … und die Ergebnisse waren robust hinsichtlich der zahlreichen Kovariaten“, kommentieren Dr. Miriam Cooper, Institute of Psychological Medicine and Clinical Neurosciences, Cardiff University School of Medicine, und Kollegen im Editorial [2].
es nicht.“
Es gebe jedoch genügend Gründe, die Ergebnisse sehr zurückhaltend zu interpretieren. Der entscheidende Grund sei, dass die Korrelationen zwischen Dosierungen, fetaler Gesamtexposition gegenüber der Substanz und den beobachteten Effekten nicht klar sind, weil keine Informationen über Anzahl und Frequenz – kontinuierlich oder in Intervallen – der eingenommenen Tabletten verfügbar waren.
„Zusammengefasst gibt es keine Veranlassung, die Empfehlungen für die Praxis zu ändern“, schreiben die Kommentatoren. Von Bedeutung sei die Arbeit dennoch für die Reflexion, dass auch für Schwangerschaft und Stillzeit als sicher geltende Substanzen nicht per se sicher wären: „Wie jede andere Schmerzmedikation auch sollte Paracetamol nicht unkritisch wochenlang eingenommen werden.“ Außerdem biete die Studie eine gute Plattform für weitere Analysen.
Der Kinderarzt Schaefer unterstützt diese Einordnung in jeder Hinsicht: „Wenn man sich im Detail mit Design, Methodik und Verlässlichkeit der Daten beschäftigt, bleiben viele Fragen offen. Die Ergebnisse sind zum Teil statistisch signifikant, aber sehr, sehr an der Grenze. Außerdem ist die Ätiologie für ADHS unglaublich komplex, da tappt man völlig im Dunkeln. Wenn wir Paracetamol in diesem Kontext thematisieren, brauchen wir eine viel stärkere Signifikanz.“
Das größte Problem hat Schaefer allerdings damit, dass in der Studie kein Wirkmechanismus beschrieben wird. Diesen würden auch die anderen Studien der jüngeren Vergangenheit nicht liefern, die den Schluss nahelegen, dass die (Langzeit-)Einnahme von Paracetamol vor und während der Schwangerschaft zum Hodenhochstand führt oder die Entwicklung von Allergien und Asthma begünstigt. „Um es kritisch zu sagen: Paracetamol-Studien sind zurzeit Mode. Ihre Bedeutung ist relativ. Auch diese hat einen nur diskreten Einfluss auf das Thema. Für einen Effekt der Substanz als Übeltäter reicht es nicht.“