München – Welchen Einfluss hat das Geschlecht auf psychische Erkrankungen wie Depression oder Suchtverhalten und gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei den Risiko- und Resilienzfaktoren? Diese Fragen diskutierten Psychiater im Gender-Symposium auf dem Europäischen Psychiatrie-Kongress [1]. Dabei wurde eines deutlich: Frauen neigen nicht „von Natur aus“ mehr zur Depression als Männer.

Der „starke“ Mann ist nicht depressiv
Die Prävalenz für depressive Erkrankungen beträgt bei Männern 10%, bei Frauen 20%. „Sind das nun echte Differenzen oder handelt es sich um Verzerrungen, um einen sogenannten Bias?“, fragte Prof. Dr. Anita Riecher-Rössler, Chefärztin am Zentrum für Gender Research und Früherkennung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.
„Möglicherweise verstellen die traditionellen Geschlechterrollen eine unvoreingenommene Sicht auf die Dinge“, meint die Psychiaterin. Frauen suchen öfter Hilfe, sie erinnern sich leichter an depressive Zustände und erzählen häufiger davon. Die Rolle des „starken“ Mannes wiederum maskiere seine seelische Instabilität, mit der Folge, dass viele Depressionen bei Männern undiagnostiziert und unbehandelt bleiben. Die Rollenstereotypen tun bei Ärzten ein Übriges, um bei Frauen eher depressive Symptome zu sehen als bei Männern.
Keine biologischen, aber psychosoziale Risikofaktoren
Biologisch begründen lässt sich eine höhere Rate von Depressionen bei Frauen nicht. Studien zeigten keine Unterschiede in der genetischen Prädisposition und die weiblichen Hormone üben eher einen antidepressiven und psychoprotektiven Einfluss aus. Allerdings, so schränkte Riecher-Rössler ein, unterlägen diese einer starken Fluktuation, die vor allem vor der Menstruation, nach einer Geburt und während der Menopause emotionale Instabilität bewirken könne.
rollen eine unvoreingenommene Sicht auf die Dinge.“
Bleiben noch die psychosozialen Risikofaktoren, die durch die „weiblichen“ Charakterzüge vorwiegend in geschlechter-stereotypen Partnerschaften getriggert werden: Frauen fühlen sich weniger selbstbewusst, neurotischer, passiver und sensibler als Männer. Sie leiden öfter unter Gewalt und sexuellem Missbrauch. Bei Konflikten entwickeln sie Schuldgefühle, die zu Depressionen bis hin zu Suizidversuchen führen können.
Emanzipierte Frauen leiden seltener an Depressionen
Doch in letzter Zeit ist eine interessante Entwicklung in Gang gekommen. Obwohl die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei der Prävalenz psychischer Erkrankungen über Länder- und Zeitgrenzen hinweg überwiegend stabil sind, gibt es 2 Ausnahmen: die Depressionen und die Drogensucht. Diese Prävalenzen verändern sich mit der Aufweichung der traditionellen Rollenbilder.
Je emanzipierter die Frauen werden, umso seltener leiden sie an Depressionen. Männer hingegen verlieren durch die Lösung vom Rollenklischee die Scheu, ihre seelischen Probleme zuzugeben und ertränken sie nicht mehr in Alkohol. Die stärksten Hinweise für diese Veränderung, so Riecher-Rössler, habe eine internationale Studie für die Länder Japan, dem Libanon, aus Spanien, Belgien und den Niederlanden ergeben [2]. Insgesamt waren rund 73.000 Probanden in 5 Entwicklungsländern und 10 entwickelten Ländern befragt worden. Die Veränderungen zeigten deutlich, dass Frauen nicht aus biologischen Gründen zu mehr Depressionen neigten, sondern dass dies aus sozialen Umständen und Rollenklischees resultiere.

Mädchen holen beim Suchtverhalten auf
Das veränderte Rollenverhalten wirkt sich jedoch nicht nur positiv aus. „Bei der Substanzabhängigkeit haben die Frauen massiv aufgeholt“, berichtete Prof. Dr. Gabriele Fischer, Leiterin der Drogenambulanz, Suchtforschung und Suchttherapie an der Medizinischen Universität Wien. „Man sieht das am Alkohol bereits bei den 12-Jährigen und daran, dass die Mädchen inzwischen häufiger Zigaretten und Drogen konsumieren als die jungen Männer.“
Leider stimme die Hypothese, wonach die Emanzipation den Frauen auch jene Krankheiten eingebracht habe, unter denen früher fast nur Männer litten. Schlimmer noch: „Suchtkranke Frauen bekommen wesentlich schneller Organschäden als Männer – gleichgültig ob Leberzirrhosen oder Psychosyndrome“, beklagte Fischer.
Auch Arzneimitteln wirken bei Frauen anders als bei Männern. „Weil die meisten Medikamente auf Proteinen transportiert werden, die von Östrogenen abhängig sind, verläuft die Metabolisierung bei Frauen schneller. Das heißt, sie brauchen einfach mehr Schmerzmittel als Männer und die Gefahr der Unterdosierung ist groß“, so die Drogenexpertin. Doch gerade bei methadon-behandelten Frauen sei die Schmerzmedikation während der Geburt oder nach Operationen häufig nicht ausreichend. „Das liegt wohl an der Furcht der Ärzte, dass die Frau noch stärker von Opiaten abhängig werden könnte“. Nach der Menopause verlieren sich die Unterschiede bei der Metabolisierung von Medikamenten.
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„Das Stigma einer Sucht trifft Frauen stärker als Männer und es dauert oft länger, bis sie den Weg in eine Behandlung finden. Wenn der erste Kontakt positiv verläuft, so wirkt sich das enorm auf die Haltequote der Patientinnen aus. Während Männer einen gleich guten Outcome haben, wenn sie nur medikamentös behandelt werden, brauchen Frauen dazu auch eine intensive psychosoziale Unterstützung“, betonte Fischer.
Damit stimmte sie mit Riecher-Rössler überein, die in ihrem Schlusswort die berühmte amerikanische Neurowissenschaftlerin Nancy Andreasen zitierte: „Frauen sind vom biologischen Standpunkt aus, vor allem aus hormonellen Gründen, wirklich das stärkere Geschlecht. Wenn sie trotzdem öfter als Männer an Depressionen leiden, muss das psychosoziale Gründe haben.“