„Sicherlich sind Betablocker in der perioperativen Behandlung ein wichtiges Thema, das eine lebendige Diskussion verdient. Trotzdem sind voreilige Schlüsse, die auf unklarem Datenmaterial basieren, nicht angebracht“, schreibt er in dem Editorial. Details des zurückgezogenen Meinungsbeitrags sind weiterhin im Internet zu finden, etwa auf dem US-Kardiologie-Blog cardiobrief von Larry Husten [5].
Die ESC-Guidelines: gestern, heute und morgen
Allerdings sorgt nicht nur die aktuelle Debatte für Unsicherheit und Unmut innerhalb der Fachwelt. „Die Lage ist so prekär, dass es bald eine solide Reaktion braucht, vor allem aufgrund der kontroversen Studienlage“, fasst Böttiger die Stimmung zusammen. Viele sind vor allem mit der Verschleppung des Problems unzufrieden: Die DECREASE-Studien stehen seit 2011 in Zweifel – Poldermans wurde Wissenschaftsbetrug vorgeworfen und das Erasmus University Medical Center suspendierte den damals renommierten Kardiologen, der zugleich Vorsitzender der ESC und Erstautor der Leitlinien zur perioperativen Behandlung war. Trotzdem wurden die 2009 veröffentlichten und mehrheitlich auf den DECREASE-Studien basierenden Leitlinien bis heute nicht überarbeitet.
Die ESC hatte im Sommer 2013, als die Metaanalyse von Cole und Francis erschien, lediglich angekündigt, dass sie gemeinsam mit der American Heart Association (AHA) und dem American College of Cardiology (ACC) an einer Aktualisierung der Leitlinie arbeitet. Bis dahin sollten Patienten vor nicht-kardialen Operationen nicht routinemäßig Betablocker erhalten, sondern über eine Verschreibung sollte „von Fall zu Fall“ entschieden werden.
„Bei der Fall-zu-Fall-Entscheidung für oder gegen einen Betablocker sollten Kliniker neben den kardiovaskulären Risikofaktoren des Patienten und der Art des chirurgischen Eingriffs sowohl die Dosis als auch den Zeitpunkt der Betablocker-Gabe beachten“, rät Lüscher. „Eine hohe Dosis eines Betablockers direkt vor einer Operation könnte Hypotension und Bradykardie induziert haben, was die erhöhten Schlaganfall- und Mortalitätsraten in POISE erklärt, während eine vorsichtigere und frühere Gabe des Betablockers vor der OP eine Schutzfunktion ausüben könnte“, schreibt er in dem Editorial.
Die tägliche Praxis ist immerhin besser, als der Streit vermuten lässt
Dass kardiale Risikopatienten von einer perioperativen Betablocker-Verabreichung vor einer nicht-kardialen oder nicht-vaskulären OP profitieren, zeigt eine im Juni 2013 veröffentlichte Meta-Analyse von insgesamt 136.745 Patienten [6]. Die 30-Tage-Mortalität der Patienten, die einen Betablocker erhielten, war signifikant reduziert (Medscape Deutschland berichtete). „Die Datenlage ist zwar kontrovers, jedoch ist das, was die Ärzte machen, eigentlich vernünftig“, sagt Lüscher. „Ich weiß auch: Wenn ich zu hoch dosiere, kann ich einen Patienten durch einen Betablocker umbringen. Aber ich habe Metoprolol noch nie in einer Dosis von 100 mg verabreicht.“
Noch in diesem Jahr soll eine von der Task Force des ESC in Zusammenarbeit mit den US-Gesellschaften überarbeitete Leitlinie veröffentlicht werden, unter der Leitung von Prof. Dr. Stehen Kristensen vom Aarhus University Hospital und Prof. Juhani Knuuti vom Turku University Hospital. „Die Entwürfe liegen vor; ich erwarte eine Veröffentlichung im 2. Quartal 2014“, sagt Lüscher.
„Diese Empfehlungen werden hauptsächlich von Kardiologen erarbeitet, die perioperative Betablockade führen jedoch meistens Anästhesisten durch“, kritisiert Böttiger. „Das Wichtigste ist eine sehr gute Anästhesie. Wir wissen sehr wohl, was wir den Patienten zumuten können.“ Seiner Ansicht nach sollten daher auch Anästhesisten und Chirurgen in die Überarbeitung der aktuellen Leitlinie zur perioperativen Behandlung einbezogen werden.
Auch er plädiert für eine individuelle Herangehensweise und empfiehlt das Ansetzen von Betablockern in der präoperativen Phase nur bei Patienten mit mittlerem oder hohem kardialem Risiko. Klarheit schaffen könnte eine neue prospektive randomisierte Studie. „Ich halte das für möglich, jedoch aufgrund der nötigen Finanzierung für schwer realisierbar“, so Böttiger.
Auch Lüscher hält die Finanzierung einer an die 100 Millionen Euro teuren Studie für unrealistisch. „Da alle Betablocker als Generika erhältlich sind, hat die Industrie kein Interesse an der Finanzierung. Im Grunde müsste die EU ein solches Trial unterstützen“, fordert er.