Der Vorwurf wiegt schwer: Ist die falsche – und bislang immer noch nicht aktualisierte – ESC-Leitlinie zur perioperativen Betablockade verantwortlich für den Tod von Hunderttausenden von Menschen? Dies ist zumindest die Sicht der Kardiologen Dr. Graham Cole und Dr. Darrel Francis vom Imperial College in London.

In einem Meinungsbeitrag im European Heart Journal schrieben Cole und Francis von europaweit 800.000 Todesfällen, die auf das Konto der perioperativen Verabreichung von Betablockern in den vergangenen 5 Jahren gingen, und vergleichen Kardiologen mit Massenmördern. Das geht vielen viel zu weit, wie die Reaktionen zeigen.
Definitiv sieht das Prof. Dr. Thomas Lüscher so, Kardiologe am Universitätsspital Zürich und Chefredakteur des European Heart Journal. „Diese Vergleiche waren einfach geschmacklos“, erklärt Lüscher gegenüber Medscape Deutschland. Den Beitrag von Cole und Francis rief Lüscher 48 Stunden nach dem Erscheinen zurück.
„Die Extrapolationen sind zudem falsch. Ich habe Anrufe von Patienten erhalten, die verunsichert sind und ihre Betablocker absetzen wollen. Ich bin entsetzt darüber, wie ein Kardiologe am Imperial College so etwas publizieren kann.“ Sein Editor der News Section, in der dieser Meinungsbeitrag veröffentlicht worden sei, hätte den Beitrag versehentlich ohne seine Zustimmung online gestellt, „weil er vom renommierten Imperial College kam“, erklärt Lüscher wie das Hin und Her zustande kam.

Er steht mit seiner kritischen Beurteilung der britischen Kollegen nicht allein. „Die Zahlen von Cole und Francis sind absolut übertrieben“, bekräftigt Prof. Dr. Bernd Böttiger von der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am Universitätsklinikum Köln auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Ich bin verunsichert wie viele andere auch, was das unmittelbar präoperative Ansetzen von Betablockern angeht“, räumt der Kölner Anästhesiologe außerdem ein.
Das Dilemma um die perioperative Betablockade ist nicht neu
Die Verunsicherung der Fachwelt hat ihren Grund – und einen Hintergrund. Risikopatienten mit ischämischer Vorgeschichte sollen vor einer Operation mit Betablockern behandelt werden, vor allem zum Schutz vor einer Ischämie und zur Schonung der Organe – so empfehlen es die aktuell noch geltenden Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) von 2009 zur perioperativen Behandlung [1].
Doch spätestens seit der Veröffentlichung einer kritischen britischen Metaanalyse – von Cole und Francis, die jetzt quasi noch einmal nachlegen – im August 2013 in dem Fachjournal Heart, rumort es nicht nur unter den europäischen Kardiologen. Die Publikation hatte auch in der Publikumspresse Nachhall gefunden und schon letztes Jahr für viel Beunruhigung gesorgt.
Darin hieß es seinerzeit, allein in Großbritannien gingen 10.000 Sterbefällen auf die Leitlinie zurück [2]. Seither stehen die Betablockade vor, während und nach einer Operation – und damit auch die ESC-Leitlinie – massiv in der Kritik (Medscape Deutschland berichtete).
Diejenigen Studien, auf denen die Empfehlung der perioperativen Betablockade beruht, sind wegen Verdachts auf wissenschaftliche Fälschung in Verruf geratenen. Diese DECREASE-Studien unter der Leitung des niederländischen Kardiologen Don Poldermans kamen zu dem Ergebnis, dass mittels perioperativer Betablockade ein Rückgang der Mortalität von 17% auf 3,4% und beim Myokardinfarkt (MI) von 17% auf 0% zu erzielen sei.
Bei DECREASE wurde die Betablockade mit Bisoprolol (5-10 mg/Tag) eine Woche vor dem chirurgischen Eingriff begonnen und bis 30 Tage danach weitergeführt. „Die Studien wurden zwar mit einem Fragezeichen versehen, jedoch nicht zurückgezogen“, kritisiert Böttiger und fordert: „Die Gremien sollten hierzu eine definitive Entscheidung treffen.“
Auch die Kritiker werden kritisiert: War POISE „poison“?
Es gab aber auch andere Studienergebnisse: Anders als die DECREASE-Studien kam die POISE-Studie mit 8.351 Patienten zu einem ungünstigeren Ergebnis [3]. Die Teilnehmer, die vor einem nicht-kardialen Eingriff Metoprolol einnahmen (100 mg 2 bis 4 Stunden vor der OP), hatten zwar auch ein verringertes Myokardinfarkt-Risiko, dafür aber signifikant erhöhte Sterbe- und Schlaganfallrisiken.
Es sind nun hauptsächlich die Ergebnisse dieser POISE-Studie, auf der die Metaanalyse von Cole und Francis – und deren massive Vorwürfe an die Leitlinien-Autoren beruhen. Nun ist aber auch POISE nicht über jeden wissenschaftlichen Zweifel erhaben, denn diese Untersuchung arbeitete mit einer sehr hohen Dosierung, was ebenfalls kritisiert wird. „Die gewählte Dosis war viel zu hoch – daher ist diese Untersuchung für mich eher eine „POISON“-Studie und entspricht nicht der Realität“, moniert Böttiger. „Noch nie habe ich präoperativ mit einer solch hohen Dosis angefangen.“ Einen vorsichtigen Beginn der Medikation mit 25 bis 50 mg hält der Anästhesist für eher angebracht.
Das sieht auch Lüscher so. Er möchte daher die Anwürfe der britischen Kollegen besser validiert sehen. Seinen Rückruf und die gesamte Kontroverse um Bisoprolol, Metoprolol & Co. im perioperativen Setting kommentierte und begründete Lüscher daher in einem am 6. Februar 2014 erschienenen Editorial im European Heart Journal [4]: Er habe Cole und Francis nach einem Review des Meinungs-Beitrags durch „fünf erfahrene Gutachter von höchstem Rang“ um eine „überarbeitete und ausgewogenere Version“ des Beitrags gebeten. Der neue Beitrag werde in Kürze auf der Internetseite des European Heart Journals publiziert, bekräftigt Lüscher gegenüber Medscape Deutschland.