Komplementärmedizin bei Krebs: Wo sollen Ärzte die Grenze ziehen?

Heike Dierbach | 25. Februar 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Berlin – Misteltherapie, Vitamine, homöopathische Globuli – Heilmethoden außerhalb der Schulmedizin sind für viele Krebspatienten sehr attraktiv. Nach Studien nutzen bis zu 70% der Krebspatienten alternative oder komplementäre Angebote [1]. Daraus ergeben sich auch Fragen für die Schulmedizin. Etwa: Was sind die Motive der Patienten? Welche Aufklärung ist erforderlich? Und wo sollten Ärzte die Grenze ziehen, welche Methoden sie integrieren? Antworten versuchte das Symposium „Verantwortung in der Integrativen Onkologie“ auf dem 31. Deutschen Krebskongress in Berlin zu finden.

„Der Patient muss sich entscheiden können, ob er ein solches unbekanntes Risiko eingehen will.“
Marc Rumpenhorst

Tumortherapie oder nur Unterstützung?

Die Begriffe komplementäre und alternative Medizin sind bislang nicht eindeutig definiert. Um Methoden besser beurteilen zu können, schlägt Prof. Dr. Karsten Münstedt, Oberarzt und Leiter des Bereichs Onkologie und Komplementärmedizin am Universitätsklinikum Gießen, deshalb eine Einteilung in 4 Gruppen vor [2]. „Entscheidend sind zwei Merkmale“, sagt er: „Zielt die Therapie darauf ab, den Tumor direkt zu behandeln, oder ist sie nur eine Unterstützung für den Patienten? Akzeptiert die Methode schulmedizinische Krebskonzepte oder verneint sie sie?“

Daraus ergeben sich dann die 4 Kombinationen A bis D:

  • Gruppe A umfasst die radikalsten Methoden: Mit diesen Methoden wird versucht, den Tumor selbst zu beeinflussen, dabei werden schulmedizinische Krebskonzepte verneint – etwa, indem die Anbieter behaupten, die Krankheit entstehe durch psychische Konflikte. In diese Gruppe fallen zum Beispiel Geistheilung, Fernheilung, Hamers Neue Germanische Medizin und Homöopathie.
  • Mit Methoden der Gruppe B sollen zwar auch direkt Tumoren attackiert werden, die Anbieter bejahen aber die Erkenntnisse der Schulmedizin. Dazu gehören unter anderem Galvanotherapie, Enzymtherapie, Dr. Rath Vitamine oder die Dr. Coy-Diät.
  • Methoden der Gruppe C sollen nur als Unterstützung dienen, dabei wird aber die Schulmedizin verneint. „Viele homöopathische Angebote lassen sich so charakterisieren“, sagt Münstedt.
  • Gruppe D schließlich umfasst das, was der Experte als die eigentliche komplementäre Medizin bezeichnet: Therapien, bei denen schulmedizinische Konzepte akzeptiert werden, und die als Unterstützung für den Patienten dienen.

Münstedts Empfehlung ist eindeutig: „Eine integrative Onkologie sollte nur Methoden der Gruppe D, teilweise auch aus Gruppe B umschließen.“ Die Gruppen A und C gehören nicht dazu, da sie wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen. Die Gruppeneinteilung erleichtere auch die Grenzziehung für Ärzte.

„Wir erwarten
von Ärzten den Hinweis, wenn ein bestimmtes Verhalten kontraproduktiv ist, sonst ist das eigentlich unterlassene Hilfeleistung.“
Jens-Peter Zacharias

„Diese Unterscheidung ist wichtig für die Patienten“, sagt Münstedt, „denn Patienten unterschieden meist nicht zwischen Naturheilkunde, alternativer und komplementärer Medizin.“ Auch Vertreter der Komplementärmedizin selbst hätten ein Interesse an Abgrenzung, wenn sie von Schulmedizinern anerkannt werden möchten.

Aufklärung auch über unbekannte Risiken

Sollen komplementäre Methoden, etwa im Krankenhaus, integriert werden, ergeben sich besondere rechtliche Vorgaben, erläutert Rechtsanwalt Marc Rumpenhorst [3]. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs müssen Ärzte dann nicht nur über die bekannten Risiken sorgfältig aufklären. Sie müssen auch deutlich machen, dass eine unerforschte Methode unbekannte Risiken birgt.

„Der Patient muss sich entscheiden können, ob er ein solches unbekanntes Risiko eingehen will.“ Diese Pflicht gilt nicht nur für Ärzte, sondern auch für Heilpraktiker und alle anderen, die eine solche Therapie durchführen. „Die Beweislast liegt in diesem Fall auf Seiten des Anbieters“, sagt Rumpenhorst.

Dr. Jeanine Staber von der Abteilung Kommunale Kliniken beim Senator für Gesundheit in Bremen stellte fest, dass es den typischen Nutzer von Komplementärmedizin nicht gibt [4]. Sie hat in einer Metaanalyse untersucht, warum Patienten sich auf alternative Angebote einlassen. Im Vordergrund steht die Hoffnung auf Heilung (4 bis 56%), eine Stärkung der Immunabwehr (22 bis 87%), eine Verbesserung der Lebensqualität (28 bis 48%) und der Wunsch, aktiv gegen die Nebenwirkungen der Schulmedizin vorzugehen (4 bis 71%). Den letzten Faktor bestätigten auch mehrere Beiträge aus dem Publikum: „Die Patienten sagen, da könnten sie endlich selbst etwas tun“, berichtete ein Arzt aus Berlin.

„Ich vermute,
dass ein großer Teil der Patienten die komplementäre und alternative Medizin deshalb nutzt, weil
in der Schulmedizin
kein Arzt mehr ausreichend Zeit hat.“
Dr. Jutta Hübner

Ärzte sollten auch warnen

Die Perspektive der Patienten vertrat auch Jens-Peter Zacharias vom Vorstand des Bundesverbandes Prostata Krebsselbsthilfe [5]. Der Verband bekennt sich bewusst zur evidenzbasierten Medizin. „Wir erwarten von Ärzten den Hinweis, wenn ein bestimmtes Verhalten kontraproduktiv ist“, sagt er, „sonst ist das eigentlich unterlassene Hilfeleistung.“

Eine ungewöhnliche Perspektive zeigte Dr. Jutta Hübner auf, Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Prävention und integrative Medizin bei der Deutschen Krebsgesellschaft. Sie stellte die Frage, inwiefern die Finanzierung von alternativer und komplementärer Medizin durch die Solidargemeinschaft eigentlich gerecht ist [6]. „Patienten verstehen oft nicht, dass die eine Krankenkasse eine Misteltherapie bezahlt und eine andere nicht.“ Oder warum teure Krebsmedikamente erstattet werden, sie preiswerte Globuli aber selbst zahlen sollen.

Das Verteilungsproblem betrifft auch eine besonders knappe Ressource im Gesundheitssystem: die Zeit, die ein Arzt für den Patienten hat. Ein Homöopath etwa kann ein sehr ausführliches Gespräch abrechnen, ein Onkologe aber nicht. „Ich vermute, dass ein großer Teil der Patienten die komplementäre und alternative Medizin deshalb nutzt, weil in der Schulmedizin kein Arzt mehr ausreichend Zeit hat und kein Arzt ausreichend Zeit vergütet bekommt“, so Hübner.

Referenzen

Referenzen

  1. Staber J: Schriften zur Gesundheitsökonomie, 75, 2013
    http://www.pco-verlag.de/bubesch/2385be.htm
  2. 31. Deutscher Krebskongress, 19. bis 22. Februar 2014, Berlin
    Symposium „Verantwortung in der Integrativen Onkologie“ (19. Februar 2014)
    Münstedt K: Grenzziehung zwischen komplementärer und alternativer Medizin
    http://www.dkk2014.de/files/dkk2014/content/downloads/Abstractband.pdf
  3. s. [2] Rumpenhorst M: Der rechtliche Rahmen für KAM in der Onkologie
  4. s. [2] Staber J: Gesundheitsökonomische Konsequenzen alternativer Behandlungsangebote
  5. s. [2] Zacharias J: Was erwartet die Selbsthilfe von der Integrativen Onkologie?
  6. s. [1] Hübner J: Gerechtigkeit bei KAM

Autoren und Interessenkonflikte

Heike Dierbach
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Münstedt K, Rumpenhorst M, Staber J, Zacharias JP, Hübner J: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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