Typ-2-Diabetes: Strikte Blutdruck- und Lipid-Kontrolle stoppt den kognitiven Verfall nicht

Inge Brinkmann | 13. Februar 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Die ACCORD-Studie – eine der umfangreichsten Untersuchungen zur Behandlung des Typ-2-Diabetes mit mehr als 10.000 Patienten – hält eine weitere Enttäuschung bereit: In einer ihrer Substudien war im Lipidsenkungs- und Blutdrucksenkungs-Arm untersucht worden, ob die Einstellung der Hypertonie auf unter 120 mmHg oder ein intensives Lipidmanagement mit einem Fibrat zusätzlich zum Statin den kognitiven Abbau bei den Diabetikern verlangsamen kann.

Nein, das funktioniert nicht, lautet die Antwort, die unlängst als Fazit dieser ACCORD MIND (Memory in Diabetes)-Studie von dem Autorenteam um Dr. Jeff D. Williamson von der Wake Forest School of Medicine in North Carolina, USA, in der Zeitschrift JAMA Internal Medicine veröffentlicht worden ist [1]. Weder eine intensive systolische Blutdruckeinstellung noch die kombinierte Lipidsenkung hielten den Verlust kognitiver Fähigkeiten auf. Stattdessen wirkte sich die starke Absenkung auf Werte unter 120mmHg sogar eher negativ aus – etwa auf die Gehirnmasse.

Für Dr. Andrej Zeyfang, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Geriatrie am Agaplesion Bethesda Krankenhaus in Stuttgart, bietet unter anderem die Art der Studienpopulation eine Erklärung für diesen Fehlschlag.

Zeyfang begründet seine Vermutung im Gespräch mit Medscape Deutschland damit, dass nicht zuletzt die rigorose Blutdruckkontrolle vermutlich schlicht zu spät kam: „Bei der Studienpopulation handelte es sich um ältere Patienten mit einem langjährigen und nach internationalen Kriterien schlecht eingestellten Typ-2-Diabetes. Man kann deshalb davon ausgehen, dass der Diabetes bereits in vielen Fällen zu vaskulären und metabolischen Veränderungen im Hirn geführt hat.“

Dieser – vielleicht zunächst noch unauffällige – Abbauprozess wird durch eine ambitionierte Blutdruckeinstellung nicht unbedingt aufgehalten. Eine straffe Einstellung des Blutdrucks bringe deshalb keine Vorteile mehr, sondern führe bei den vorgeschädigten Blutgefäßen der Zuckerkranken vielmehr eher zu zusätzlichen Versorgungsproblemen, sprich Durchblutungsproblemen im Gehirn. Und das macht plausibel, warum in einer solchen Konstellation das Risiko für eine vaskuläre Demenz eher höher als niedriger wird.

„Bei der Studien-
population handelte es sich um ältere Patienten mit einem langjährigen und schlecht eingestellten Typ-2-Diabetes.“
Dr. Andrej Zeyfang

Diese Erkenntnisse haben bereits zu Konsequenzen geführt: Unter anderem als Folge der Ergebnisse des Blutdruckarms von ACCORD gilt für diese Patienten nach den aktuellen Leitlinien heute sowieso nur noch ein Blutdruck-Zielwert von 140/90mmHg, betont der Diabetologe und Geriater.

Eine ACCORD-Studie, viele Rückschläge

Es ist nicht das erste Mal, dass die ACCORD-Studie enttäuschende Ergebnisse lieferte. So hatte sie bereits vor einigen Jahren gezeigt, dass eine strikte Blutzuckersenkung mit einem HBA1c-Zielwert unter 6% bei langjährigen Diabetikern das kardiovaskuläre Risiko nicht wie erhofft senkt, sondern – im Gegenteil – das Sterberisiko erhöht [2].

Weitere Auswertungen der Studie im ACCORD-Blutdruck- sowie im ACCORD-Lipid-Arm, dämpften zudem die Hoffnung, dass zumindest eine intensive Kontrolle von Blutdruck oder Hyperlipidämie die Prognose dieser kardiovaskulären Hochrisiko-Patienten verbessern könnte: Auch die Ergänzung einer bestehenden Statin-Therapie mit Fenofibrat bzw. die intensive Senkung des systolischen Blutdrucks auf unter 120 mmHg reduzierte kardiovaskuläre Komplikationen nicht [3,4].

Wenn schon nicht für Herz- und Kreislauf, so könnten diese Therapie-Maßnahmen vielleicht für die Hirnfunktionen des Diabetikers nützlich sein, lautete die Ausgangshypothese der aktuellen Substudie. Hintergrund ist das erhöhte Risiko von Typ-2-Diabetikern, an einer vaskulären Demenz oder Alzheimer zu erkranken. Zudem deuten Beobachtungsstudien der letzten Jahre darauf hin, dass Begleiterkrankungen wie Hypertonie oder Dyslipidämie dieses Risiko zusätzlich erhöhen.

Die ACCORD MIND-Studie ging nun von der Hypothese aus, dass es dann umgekehrt möglich sein müsste, mit Hilfe eines strikten Managements dieser beiden Komorbiditäten das Risiko von Demenzerkrankungen unter den Typ-2-Diabetikern zu verringern.

„Man kann deshalb davon ausgehen, dass der Diabetes bereits in vielen Fällen zu vaskulären und metabolischen Veränderungen im Hirn geführt hat.“
Dr. Andrej Zeyfang

Die Multicenterstudie mit randomisiertem 2x2-faktoriellem Design umfasste insgesamt 2.977 Patienten mit einem seit mindestens 10 Jahren bestehenden Typ-2-Diabetes. Diese wiesen zu Beginn der Untersuchung keine kognitiven Defizite und einen mittleren HbA1c-Wert von 7,5% auf.

In einer Gruppe (n=1.439) wurde die aggressive antihypertensive Therapie (systolisches Blutdruckziel von unter 120 mmHg) mit einer Standardtherapie (systolisches Blutdruckziel von unter 140 mmHg) verglichen. In der zweiten Gruppe (n=1.538) erhielten die Probanden den Lipidsenker Fenofibrat, der vor allem auch die Triglyzeride reduziert, oder ein Placebo – jeweils in Ergänzung zu einer Statintherapie mit dem LDL-Cholesterinziel von 100 mg/dl.

Primäre Endpunkte der Studie waren Differenzen im Digit Symbol Substitution Test (DSST) – einem Test, bei dem die Probanden unter Zeitdruck einzelnen Ziffern bestimmte Symbole zuordnen müssen – sowie Unterschiede im Gesamthirnvolumen nach 40 Monaten, das mit Hilfe  der Kernspintomografie quantifiziert wurde.

Das Ergebnis lautet zusammengefasst: In keiner der Patientengruppen konnte der Rückgang der kognitiven Fähigkeiten gestoppt werden; alle Patientengruppen wiesen nach 40 Monaten vergleichbare DSST-Scores auf. Die systolische Blutdruckeinstellung auf unter 120 mmHg ließ zudem offenbar die Hirnmasse schneller schrumpfen als die Therapie mit einem Zielwert von unter 140 mmHg; nach 40 Monaten zeigte sich hier ein Unterschied von 4,4 mm3.

Auch die Fibrattherapie erbrachte keinen Zusatznutzen

Nicht nur die Blutdrucksenkung blieb ihre Wirkung schuldig, auch die entzündungshemmende Wirkung der Fibrate schlug offenbar nicht weiter zu Buche. „Der antiinflammatorische und antioxidative Effekt des Fibrates sollte dagegen eher vor einer degenerativen Demenz schützen“, sagt Zeyfang, der auch der Vorsitzende der AG Diabetes und Geriatrie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) ist.

„Der anti-
inflammatorische
und antioxidative Effekt des Fibrates sollte dagegen
eher vor einer degenerativen Demenz schützen.“
Dr. Andrej Zeyfang

Allerdings wurde dieser antiinflammatorische Effekt vermutlich bereits durch die immer zusätzlich verabreichten Statine abgedeckt. Verschiedene Studien hätten bereits gezeigt, so Zeyfang, dass Fibrate hier keinen Zusatznutzen mehr brächten. „Deshalb hätte man die Studie heute wohl auch anders geplant“, meint Zeyfang.

Das gelte auch für die Blutdruckzielwerte. „Während man vor rund drei Jahrzehnten den systolischen Blutdruck noch großzügig mit ‚100 plus Lebensalter’ definierte, schlug in den nachfolgenden Jahren das Pendel immer mehr in die entgegengesetzte Richtung um“, sagt Zeyfang. Der Blutdruck der älteren Diabetiker sollte nun Normwerte von 120/80 mmHg möglichst nicht mehr überschreiten, das Risiko vor allem von kardiovaskulären Erkrankungen dadurch gesenkt werden. „Das führte aber eher zu vermehrten Stürzen und Schwindelanfällen, als dass die Patienten davon profitierten“, so Zeyfang.

Heute wird von der Leitlinie „Diabetes mellitus im Alter“, die der Stuttgarter Geriater und Internist als Koautor mitgestaltete, ein Zielblutdruck von 140/90 mmHg genannt – nicht zuletzt auch auf Grundlage der Ergebnisse der verschiedenen ACCORD-Studien. Und die aktuelle MIND-Substudie stützt ebenfalls die inzwischen vollzogene Abkehr von den strikteren Zielwerten bei Diabetikern.

Therapieentscheidungen sollen nicht auf „angenommenen Vorteilen“ beruhen

Die neue ACCORD MIND-Studie erinnere daran, dass Therapieentscheidungen auf „vorhandener Evidenz“ beruhen sollten – und nicht auf „angenommenen Vorteilen“, schreiben Dr. Carole Dufouil vom National Institute of Health and Medical Research in Bordeaux, Frankreich, und Dr. Carol Brayne von der University of Cambridge, Großbritannien, in einem die aktuelle Veröffentlichung begleitenden Kommentar [5].

Denn dies zumindest hat die Demenzforschung bereits gezeigt: Es ist offenbar nicht ganz so einfach, vielversprechende Erkenntnisse aus Beobachtungsstudien in eine evidenzbasierte Präventionsstrategie zu verwandeln. Dufouil und Brayne erinnern in dem Zusammenhang auch an die gegen das Alzheimerprotein Beta-Amyloid entwickelten Therapien, von denen die Betroffenen bislang ebenfalls nicht profitierten (Medscape Deutschland berichtete).

Nur soviel steht jetzt fest: Eine intensive Blutdrucksenkung unterhalb des Schwellenwerts von 140/90mmHg sollte bei älteren Diabetikern nur noch mit Vorsicht durchgeführt werden. Aber was die Erkenntnisse aus der MIND-Substudie für jüngere Patienten bedeuten oder welche langfristigen Auswirkungen die Interventionen haben, muss sich erst noch zeigen.

Referenzen

Referenzen

  1. Williamson JD, et al: JAMA Intern Med. (online) 3. Februar 2014
    http://dx.doi.org/10.1001/jamainternmed.2013.13656
  2. The ACCORD Study Group: NEJM 2008;358:2545-2559
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa0802743
  3. The ACCORD Study Group: NEJM 2010;362:1563-1574
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa1001282
  4. The ACCORD Study Group: NEJM 2010;362:1575-1585
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa1001286
  5. Carole Dufouil, et al: JAMA Intern Med. (online) 3. Februar 2014
    http://dx.doi.org/10.1001/jamainternmed.2013.7674

Autoren und Interessenkonflikte

Inge Brinkmann
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Williamson JD: Erklärungen zu Interessenkonflikten finden sich in der Originalpublikation.

Zeyfang A: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

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