Späte Adipositaschirurgie: Verschenkte Chance?

Nadine Eckert | 7. Februar 2014

Autoren und Interessenkonflikte


Prof. Dr. Thomas Horbach

Die Adipositaschirurgie gilt als „letzter Ausweg“, wenn Patienten alle anderen Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft haben. „Doch damit verschenken wir eine riesige Chance, belastende und kostspielige Folgeerkrankungen, allen voran dem Diabetes, vorzubeugen. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Adipositaschirurgie sicher und effektiv ist und den Patienten von vornherein als Therapiemöglichkeit angeboten werden sollte“, sagt Prof. Dr. Thomas Horbach gegenüber Medscape Deutschland.

Das größte Hindernis für den effektiven und präventiven Einsatz der chirurgischen Adipositastherapie ist bereits mehr als 20 Jahre alt. In einer Artikelserie zur Adipositaschirurgie, die am 4. Februar in Lancet Diabetes & Endocrinology erschien, kritisieren US-Autoren, dass „die Adipositaschirurgie weltweit durch ein 1991 veröffentlichtes Konsensuspapier der National Institutes of Health (NIH) gesteuert wird, das den Body-Mass-Index (BMI) als primäres Operationskriterium festlegt und die Chirurgie auf Patienten einschränkt, die extrem adipös sind“.

Doch die Empfehlungen der NIH hätten von Anfang an gravierende Einschränkungen gehabt und seien heute völlig überholt, schreiben Prof. Dr. David E. Cummings vom Diabetes and Obesity Center of Excellence der University of Washington in Seattle und Kollegen [1].

„Die Empfehlungen der NIH waren das Ergebnis von Expertenverhandlungen am grünen Tisch“, kommentiert Horbach, der am Stadtkrankenhaus Schwabach ein Referenzzentrum für Adipositaschirurgie leitet. „Sie basieren auf dem Kenntnisstand von Ende der 1980er-Jahre. Damals wurden die adipositaschirurgischen Eingriffe nicht laparoskopisch, sondern offen durchgeführt und waren mit beträchtlichen Komplikationen vergesellschaftet.“

„Die Adipositas-
chirurgie sollte
den Patienten
von vornherein als Therapiemöglichkeit angeboten werden.“
Prof. Dr. Thomas Horbach

Adipositas gefährlicher als Operation

„Trotzdem werden nun schon seit 2 Jahrzehnten auf Basis dieser Empfehlungen, die wir heute mit der Evidenzklasse 5 bewerten würden, weltweit Patienten operiert“, so Horbach. Nach seiner Ansicht ist der BMI allein als Entscheidungskriterium „denkbar schlecht“, dies vor dem Hintergrund, dass – wie viele Studiendaten zeigen – sich auch metabolische Parameter, etwa der Glukosestoffwechsel, nach dem Eingriff verbessern. Zudem seien die heutigen Operationen um ein Vielfaches sicherer als damals.

„Die Risiken der bariatrischen Chirurgie werden häufig überschätzt, die der Adipositas dagegen unterschätzt“, kritisiert der Chirurg Dr. Alfons Pomp vom New York Presbyterian Hospital in Lancet Diabetes & Endocrinology [2]. In den USA seien Übergewicht und Adipositas kombiniert inzwischen die zweithäufigste vermeidbare Todesursache – gleich nach Tabakrauch. In den USA sind 20% der Todesfälle bei Frauen und 15% der Todesfälle bei Männern mit Adipositas assoziiert.

„Was die mit schwerer Adipositas verbundenen Komorbiditäten anrichten, ist noch erschreckender“, schreibt Pomp. „Die Mortalitätsraten der bariatrischen Chirurgie sind dagegen in den vergangenen zehn Jahren um 80% gefallen. Heute hat die bariatrische Chirurgie das gleiche Mortalitätsrisiko wie ein Hüftgelenksersatz (0,3%) – und das ist nur ein Zehntel des Mortalitätsrisikos eines Koronarbypasses. Die Komplikationsrate in den ersten 30 Tagen nach der Operation bewegt sich im Bereich von 4%.“

„Die Risiken
der bariatrischen Chirurgie werden häufig überschätzt, die der Adipositas dagegen unterschätzt.“
Dr. Alfons Pomp

„Übergewicht ist sicherlich gefährlicher als die Operation“, bestätigt Horbach. Seit Ende der 1990er-Jahre kristallisiere sich zudem immer mehr heraus, dass die Adipositaschirurgie auch enormen positiven Einfluss auf Diabeteserkrankungen hat.

„Effektivste Behandlungsmethode für Diabetes“

Endokrinologen um Prof. Dr. Sten Madsbad vom Hvidovre Hospital der Universität Kopenhagen sind überzeugt: „Die bariatrische Chirurgie ist die effektivste Behandlungsmethode zur Gewichtsreduktion und Blutzuckerkontrolle.“ Schon innerhalb weniger Tage nach der Operation verbessere sich die Blutzuckerkontrolle beträchtlich, noch bevor es zu einer nennenswerten Gewichtsreduktion komme [3].

Dr. Alexander Miras vom Hammersmith Hospital in London und Dr. Carel le Roux vom University College Dublin berichten in der gleichen Ausgabe des Journals, dass sich die durch Diabetes oder prädiabetische Störungen der Blutzuckerkontrolle entstandenen Folgekomplikationen etwa an Nieren, Augen, Nerven und Herz-Kreislauf-System in den meisten Fällen postoperativ entweder stabilisierten oder verringerten [4].

Uneinsichtigkeit bei den Kostenträgern

Trotz all dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse habe sich an der restriktiven Einstellung der Kostenträger und politisch verantwortlichen Institutionen bis heute nichts geändert. „Wenn man einen Patienten operieren will, werden einem immer die veralteten BMI-Kriterien des NIH vorgebetet“, sagte Horbach. Insbesondere die Krankenkassen pochen auf die Experten-Empfehlungen des NIH, wenn es darum geht, einem Patienten die Adipositaschirurgie zu finanzieren.

„Die bariatrische Chirurgie ist
die effektivste Behandlungs-
methode zur Gewichtsreduktion und Blutzucker-
kontrolle.“
Prof. Dr. Sten Madsbad

„Wenn man daran etwas ändern will, verlangen die Kassen heute aber wissenschaftliche Evidenz der Klasse eins“, so Horbach. Doch die ist nicht leicht zu generieren. Alle retrospektiven Analysen der letzten Jahrzehnte enthalten ausschließlich Patienten, die die Kriterien des NIH erfüllten. „Und wenn man eine prospektive Studie von guter Qualität machen will, in der Patienten schon ab einem BMI von 30 operiert werden sollen, wird sie nicht genehmigt – wegen der NIH-Kriterien“, erklärte Horbach.

In Asien haben Menschen mit einem BMI von 28 bereits ein viel höheres Diabetesrisiko als in Europa oder USA. Dort gibt es inzwischen Erfahrungen mit Kollektiven, die mit einem BMI von unter 30 kg/m² operiert wurden. „Diese Studien zeigen, dass auch mit niedrigerem BMI, zum Beispiel bei Diabetikern, durch eine Operation ein sehr positiver Effekt erreicht wird“, so Horbach.

Adipositaschirurgie bedeutet Einsparungen für Gesundheitssysteme

Diese Zahlen kennen natürlich auch die Kostenträger hierzulande. Doch bedenkt man, dass 30% der deutschen Bevölkerung einen BMI über 30 kg/m² haben, kann man sich die Flut an Operationen vorstellen, die auf die Krankenkassen zukommen würden. „Deshalb wird für die Patienten eine Mauer aufgebaut, die möglichst hoch und unüberwindbar ist“, sagte Horbach.

Dabei gebe es eine ganze Reihe von Studien, die zeigen, dass sich die Adipositaschirurgie langfristig auch finanziell lohne. Modellrechnungen zur Adipositaschirurgie in England ergaben, dass das britische Gesundheitssystem in 3 Jahren 1 Milliarde Euro sparen könnte, wenn nur 25% der Adipösen operiert würden, die die alten NIH-Kriterien erfüllen [5].

Auch die viel zitierte schwedische SOS (Swedish Obese Subjects)-Studie zeige, dass die Adipositaschirurgie nach über 15 Jahren sowohl für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt als auch für das Gesundheitssystem und das Überleben der einzelnen übergewichtigen Menschen große Vorteile habe [6] (Medscape Deutschland berichtete).

Kriterien der NIH für eine Bariatrische Operation

Die National Institutes of Health (NIH) haben 1991 Kriterien für die Bariatrische Operation bei Patienten mit massivem Übergewicht festgelegt [7]:

  • Ein BMI von 40 kg/m2 und höher oder ein BMI von 35 kg/m2 und höher bei Patienten mit weiteren Risikofaktoren wie schwerer Schlafapnoe, durch die Adipositas bedingter Kardiomyopathie oder schwerem Diabetes,
  • ausbleibender Erfolg anderer gewichtsreduzierender Maßnahmen,
  • keine medizinischen oder psychologischen Kontraindikationen,
  • Verständnis des Patienten für die Operation und ihre Risiken,
  • starke Motivation zur Compliance nach der Operation.

Referenzen

Referenzen

  1. Cummings DE, et al: Lancet Diabetes Endocrinol. 2014; 2(2):175-181
    http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(13)70198-0
  2. Pomp A: Lancet Diabetes Endocrinol. 2014; 2(2):98-100
    http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(14)70009-9
  3. Madsbad S, et al: Lancet Diabetes Endocrinol. 2014; 2(2):152-164
    http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(13)70218-3
  4. Miras AD, et al: Lancet Diabetes Endocrinol. 2014; 2(2):141-151
    http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(13)70158-X
  5. Office of Health Economics, London: Bericht mit Modellrechnungen über mögliche Ersparnisse durch bariatrische Chirurgie in England
    www.rcseng.ac.uk/news/docs/BariatricReport.pdf
  6. Sjöström L, et al: NEJM 2007;357:741-752
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa066254
  7. National Institutes of Health: Ann Intern Med.1991;115(12):956-961
    http://dx.doi.org/10.7326/0003-4819-115-12-956

Autoren und Interessenkonflikte

Nadine Eckert
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Horbach T, Pomp A, Miras AD, le Roux C, Madsbad S: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Cummings D: Studienleiter der COSMID-Studie, die von Johnson & Johnson finanziert wird.

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