Es war einmal sehr einfach, einen Diabetes einzuordnen: War der Patient jung und schlank, lautete die Diagnose Typ-1-Diabetes. Ein positiver Test auf Autoantikörper bestätigte die Feststellung. War der Patient dagegen schon älter und hatte etliche Pfunde zu viel auf den Rippen, war die Diagnose Typ-2-Diabetes klar. Auf Antikörper musste da gar nicht erst getestet werden.
Doch „Diabetes ist nicht entweder eine Autoimmunerkrankung oder ein Lebensstilproblem, es gibt noch eine Vielzahl von weiteren Gründen, Diabetes zu bekommen“, sagt Prof. Dr. Andreas Fritsche, Pressesprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft, im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Wie heterogen die Krankheit Diabetes tatsächlich ist, beschreiben in Lancet Endocrinology & Diabetes finnische Forscher. Die Arbeitsgruppe um Dr. Tiinamaija Tuomi von der Universität Helsinki kommt zu dem Schluss, dass Typ-1- und Typ-2-Diabetes wahrscheinlich nur die beiden Extreme einer ganzen Spanne von Diabeteserkrankungen sind.
Abschied von lieb gewonnen Diagnosekriterien
nicht entweder eine Autoimmunerkrankung oder ein Lebensstil-
problem, es gibt noch eine Vielzahl von weiteren Gründen, Diabetes zu bekommen.“
Diagnosekriterien, die über Jahrzehnte als zuverlässig galten, verlieren deshalb mehr und mehr an Wert. Eines der wichtigsten davon – das Patientenalter – ist heute „von geringem klinischen Wert“, urteilen Tuomi und ihr Team. Die Zeiten des „Altersdiabetes“ sind vorbei, seitdem immer mehr Kinder und Jugendliche schon an Übergewicht und Adipositas leiden.
Und die Fettleibigkeit? Zusammen mit dem metabolischen Syndrom war sie traditionell die Basis für eine Typ-2-Diabetesdiagnose. Da jedoch die erwachsene Bevölkerung im Allgemeinen und auch viele Menschen mit Typ-1-Diabetes übergewichtig sind, liegt „der diagnostische Wert dieser Kriterien heute eher in ihrer Abwesenheit“, so die Autoren. „Patienten, die nicht übergewichtig sind und keine Anzeichen eines metabolischen Syndroms aufweisen, haben keinen Typ-2-Diabetes.“
Wenn die Betazellen noch Insulin produzieren, dann muss das doch ein Typ-2-Diabetes sein, oder? Nicht immer. „Bei vielen Patienten, bei denen der Typ-1-Diabetes erst im Erwachsenenalter ausbricht, kann noch ein Rest Betazellfunktion vorhanden sein, so dass sie in der klinischen Präsentation dem Typ-2-Diabetes ähneln“, erklären die finnischen Forscher.
Tuomi und Kollegen warnen zudem vor voreiligen Schlüssen, wenn der Patient eine Insulintherapie benötigt. „Patienten mit Typ-2-Diabetes werden oft jahrelang nicht erkannt, bis sie schwere Symptome zeigen. Dann müssen sie meist sofort mit einer Insulintherapie beginnen, um die Hyperglykämie unter Kontrolle zu bekommen.“ Doch insulinpflichtig sind sie deshalb nicht unbedingt.
„Manche Kollegen bezeichnen Typ-2-Diabetiker, die mit Insulin behandelt werden, im Arztbrief als insulinpflichtig. Insulinpflichtig ist aber immer nur der Patient, dessen Betazellen aufgrund einer Autoimmunität entweder abgestorben oder zumindest fast erschöpft sind, also Typ-1-Diabetiker“, betont Diabetologe Fritsche, der am Universitätsklinikum Tübingen den Lehrstuhl für Ernährungsmedizin und Prävention leitet.
Nicht Typ 1 und nicht Typ 2 – LADA oder Typ 1,5
Autoimmunität galt lange als das Alleinstellungsmerkmal des Typ-1-Diabetes. Wenn man auf Autoantikörper testet, müsste man doch diagnostisch auf der sicheren Seite sein? Nicht unbedingt. „Es existiert eine Untergruppe von Typ-2-Diabetikern, die pankreatische Autoantikörper aufweisen“, berichten Tuomi und Kollegen.
noch ein Rest Betazellfunktion vorhanden sein, so dass sie in der klinischen Präsentation dem Typ-2-Diabetes ähneln.“
Angesichts all dieser Unsicherheiten in der Diagnose entschied man sich, eine neue Diabeteskategorie einzuführen, die zwischen dem Typ-1- und dem Typ-2-Diabetes angesiedelt ist. Eine Zeit lang sollte die neue Kategorie sogar Typ-1,5-Diabetes heißen. Letztlich entschied man sich dann aber doch für Late onset Autoimmunity Diabetes in the Adult (LADA).
„LADA ist in Finnland erfunden worden, dem Land mit der höchsten Typ-1-Diabetesinzidenz weltweit“, sagt Fritsche. Dort seien in den epidemiologischen Diabetesstudien häufig die Antikörper gemessen worden. So habe man entdeckt, dass auch Typ-2-Diabetiker Antikörper haben können, die eigentlich charakteristisch für den Typ-1-Diabetes sind. „In Finnland haben bis zu 20% der Typ-2-Diabetiker in Studien solche Autoantikörper. In deutschen und mitteleuropäischen Kohortenstudien sind es dagegen nur unter 5%“, sagt Fritsche.
Verbindliche Kriterien für die Diagnose des LADA gibt es nicht, häufig angewendet werden aber: positiver Test auf GAD-Antikörper, älter als 35 Jahre und keine Insulintherapie in den ersten 6 bis 12 Monaten nach Diagnose.
Diabetologe Fritsche nimmt die Heterogenität der Diabeteserkrankungen pragmatisch: „Die Unterteilung in verschiedene Diabetesformen hat bisher leider kaum therapeutische Konsequenzen. Eigentlich geht es immer nur um die Entscheidung, ob ein Patient Insulin benötigt oder auch mit oralen Antidiabetika behandelt werden kann. Patienten mit LADA ordne ich deshalb dem Typ-1-Diabetes zu, denn dann ist klar, dass keine Insulinabsetzversuche stattfinden dürfen“.
Diabetes durch Pankreas-Schädigung oder -Entfernung
Dennoch findet Fritsche die Erforschung der Heterogenität des Diabetes sehr wichtig. Auf eine große Gruppe von Diabeteserkrankungen, die in der Differenzialdiagnose berücksichtigt werden sollten, gehe der Review von Tuomi et al allerdings nicht ein, ergänzt Fritsche. Vom sogenannten pankreopriven Diabetes sind Menschen betroffen, bei denen durch eine Schädigung der gesamten Pankreasdrüse die Insulinproduktion behindert wird oder gar ganz ausfällt.
„Nach einer Pankreatitis, einer operativen Bauchspeicheldrüsenentfernung wegen Krebs oder auch einer zystischen Fibrose bekommen Menschen einen Diabetes, der dann häufig als Typ-1- oder Typ-2-Diabetes fehldiagnostiziert wird. Ist der Patient dick, wird ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert, ist er dünn ein Typ-1-Diabetes. Doch die richtige Therapie – Insulin oder Tabletten – hängt auch davon ab, ob und wie viele insulinproduzierende Inselzellen noch vorhanden sind“, betont Fritsche.

Erhöhtes Diabetes-Risiko in der Pubertät
Und bei den jungen Patienten? Bis vor einigen Jahrzehnten galt: Hat ein Kind oder ein Jugendlicher Diabetes, dann muss das ein Typ-1-Diabetes sein. „Doch parallel zum Anstieg der Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter hat die Häufigkeit des Typ-2-Diabetes in dieser Altersgruppe zugenommen“, erklärt Prof. Dr. Karsten Müssig, der am Deutschen Diabetes-Zentrum die Arbeitsgruppe Ernährung leitet, gegenüber Medscape Deutschland.
Auch wenn der Typ-1-Diabetes weiter die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter bleibt, tritt der Typ-2-Diabetes immer mehr als neuer pädiatrischer Diabetestyp in Erscheinung – und wirft die ursprünglich so einfache Diagnosestellung in dieser Altersgruppe über den Haufen.
Bei allen Jugendlichen kommt es in der Pubertät zu einer transienten Insulinresistenz. „Die Ursache hierfür ist der Anstieg kontrainsulinärer Hormone wie Cortisol und Wachstumshormon“, sagt Müssig. Bei schlanken Teenagern wird diese Insulinresistenz durch vermehrte Insulinausschüttung kompensiert. Bei adipösen Jugendlichen gelingt dies dem Körper oft nicht. „Die Insulinresistenz korreliert dabei mit dem BMI, weshalb sie bei adipösen Jugendlichen stärker ausgeprägt ist als bei schlanken Teenagern.“
Und anders als bei Erwachsenen versagen die Betazellen bei Jugendlichen sehr schnell. Mit einer Abnahme der Betazellfunktion um circa 15% pro Jahr dauert es bei Teenagern im Durchschnitt 2,5 Jahre bis zum Ausbruch des Typ-2-Diabetes. Bei Erwachsenen dauert die Transition etwa 10 Jahre, mit einer jährlichen Abnahme der Betazellfunktion von etwa 7%.
„Jugendliche mit Typ-2-Diabetes sind immer fettleibig und weisen Merkmale des metabolischen Syndroms auf, doch weder Übergewicht noch metabolisches Syndrom schützen vor Typ-1-Diabetes“, warnen die Autoren um Tuomi. „Bei Jugendlichen mit einem neu diagnostizierten Diabetes sollte deshalb immer auf Autoantikörper getestet und sorgfältig beobachtet werden, ob sie eine Ketoazidose entwickeln.“
Ketoazidose oder Autoantikörper – und trotzdem keine zuverlässige Diagnose?
Doch ebenso wie das Alter haben auch Ketoazidose und Autoantikörper nicht mehr den gleichen differenzialdiagnostischen Wert wie noch vor einigen Jahrzehnten. „Bei normalgewichtigen, autoantikörperpositiven Patienten unter zehn Jahren, die eine Ketoazidose aufweisen, ist die Diagnose eines Typ-1-Diabetes unkompliziert. Auch ältere Patienten, die positiv auf Autoantikörper getestet wurden oder ketotisch sind, haben üblicherweise einen Typ-1-Diabetes“, schreiben die finnischen Autoren.
Doch in den USA wird bei fast 20% der jugendlichen Patienten mit Typ-2-Diabetes eine Ketoazidose festgestellt – wobei dies vor allem für afro-amerikanische Jugendliche gilt. Hinzu kommt, dass auch bei Kindern und Jugendlichen eine Untergruppe mit Typ-2-Diabetes existiert, die pankreatische Autoantikörper haben. In einer kleinen Studie mit 128 Kindern und Jugendlichen in Deutschland waren dies 36%, in einer größeren Studie in den USA 9,8%. Analog zum LADA wird diese Untergruppe von Diabeteserkrankungen als verzögert auftretender, autoimmun bedingter Diabetes beim Jugendlichen bezeichnet.
„Antikörperpositive Kinder und Jugendliche mit Typ-2-Diabetes ähneln im klinischen Verlauf eher Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes als ihren Antikörper-negativen Altersgenossen. Möglicherweise liegt aber bei den phänotypisch als Typ-2-Diabetes imponierenden Patienten eher ein Typ-1-Diabetes vor und keine von diesen beiden Typen abzugrenzende Form“, sagt Müssig. „Die im Rahmen der Adipositas bestehende Insulinresistenz könnte den Untergang der Beta-Zellen durch Gluko- und Lipotoxizität beschleunigen“, ergänzt der Düsseldorfer Diabetologe. Ob diese Jugendlichen letztlich eine Insulindefizienz entwickeln werden, müssen Follow-up-Daten erst noch zeigen.
Man sieht nur das Abziehbild des dicken Diabetikers, der sich zu wenig bewegt.“
Was bringt die ethnische Herkunft für die Diagnose?
„Also weder das Vorliegen einer Ketoazidose noch der positive Test auf Autoantikörper unterscheiden einen Typ-1-Diabetes eindeutig vom Typ-2-Diabetes“, schreiben die Autoren um Tuomi. Könnte dann vielleicht die Herkunft ein nützliches Diagnosekriterium sein?
Tatsächlich ist Typ-1-Diabetes bei Kindern mit europäischer Abstammung am häufigsten. Doch selbst ethnische Unterschiede scheinen von Auslösern in der Umwelt abzuhängen. Typ-1-Diabetes ist in Somalia sehr selten. Ziehen aber somalische Kinder nach Finnland um, haben sie dieselbe hohe Typ-1-Diabetesinzidenz, wie finnische Kinder, wie eine Studie zeigte.
Monogene Diabetesformen: wann die Alarmglocken läuten sollten
Auch die Diagnose monogener Diabetesformen wird von der klinischen Präsentation des Typ-2-Diabetes behindert. Ein monogener Diabetes wurde bislang diagnostiziert, wenn der Patient bei der Diagnose jünger als 25 Jahre war, eine autosomale Vererbung vorlag und er kein Insulin benötigte. Doch auch die meisten Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes erfüllen diese Kriterien.
Als Diagnosehilfe hat die International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes Richtlinien herausgegeben, wann bei einem Arzt, der einen jugendlichen Diabetiker vor sich hat, die Alarmglocken läuten sollten. So könnte beispielsweise ein Kind, bei dem schon vor dem 6. Lebensmonat Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde, bei dem nach 3 Jahren Krankheitsdauer noch eine C-Peptid-Sekretion detektierbar ist und das keine Autoantikörper aufweist, in Wirklichkeit einen monogenen Diabetes haben.
Auch ein Typ-2-Diabetiker, der nicht fettleibig ist und keine Anzeichen einer Insulinresistenz (keine Akanthose, normales C-Peptid) aufweist, könnte monogenen Diabetes haben, insbesondere wenn seine ethnische Herkunft mit einer niedrigen Typ-2-Diabetesprävalenz assoziiert ist.
„In der Öffentlichkeit und auch der Politik werden häufig alle Diabetiker in einen Topf geworfen. Man sieht nur das Abziehbild des dicken Diabetikers, der sich zu wenig bewegt. Diabetes wird immer mehr als Lebensstilproblem statt als Krankheit betrachtet“, kritisiert Fritsche. „Der Review von Tuomi und Kollegen zeigt, dass es viele Wege gibt, die zum Diabetes führen. Die meisten Diabetiker können nicht einfach abnehmen und werden dann wieder gesund. Diabetes ist eine Krankheit, die mit Medikamenten behandelt werden muss.“