Zeitdruck, Nacht- und Wochenenddienste, viele Überstunden und eine hohe Verantwortung für die Patienten, bei denen es um Leben und Tod gehen kann. Was viele Ärzte-Serien im Fernsehen thematisieren – etwa die US-Serie „Grey’s Anatomy“ bei jungen Ärzten – ist auch in deutschen Kliniken Realität: Die rund 175.000 Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern sind großen Belastungen ausgesetzt. Über die Hälfte, gut 55%, leidet unter negativem Stress. Dies ergibt eine Befragung, die jetzt in der DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift erschienen ist und von Arbeitsmedizinern initiiert wurde [1].
2.064 von insgesamt 22.512 Klinikärzte in Baden-Württemberg haben einen Online-Fragebogen des Instituts für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin der Goethe-Universität in Frankfurt anonymisiert beantwortet. „Vor allem junge Assistenzärzte empfinden, dass ihr persönlicher Einsatz höher ist, als der Benefit, den sie zurückbekommen“, sagt der Erstautor der Studie, der Doktorand und angehende Mediziner Jan Bauer, der auch Vorsitzender des studentischen Gremiums Sprecherrat im Marburger Bund ist.
Das medizinische Personal an Kliniken leidet nach seiner Einschätzung häufiger unter gesundheitsschädlichem Stress als andere Berufsgruppen. So empfanden nur 22% der Lehrer in einer ähnlichen Studie Disstress. Hier fühlten sich die älteren Lehrer mehr belastet als die jüngeren [2].
Klinikstress in allen Bundesländern vergleichbar
Die Ärzte-Studie war Teil einer bundesweiten Befragung, der iCept-Studie, die bisher nicht veröffentlicht ist [3]. Der Fragebogen umfasste 20 Fragen, unter anderem zum Ausmaß der Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, Einfluss auf die Aufgaben, Betriebsklima, Zeitdruck, körperlichen und psychischen Anforderungen und Jobzufriedenheit. „Es gab in Baden-Württemberg keine signifikanten Unterschiede zu den anderen Bundesländern“, sagt Bauer.
Als theoretische Grundlage zur Messung von Disstress, einer gesundheitsschädlicher Belastung, dienten Jan Bauer und Prof. Dr. David Groneberg 2 Modelle: Nach dem Effort-Reward-Imbalance-Modell (ERI) entsteht Disstress durch ein Ungleichgewicht zwischen wahrgenommenen Arbeitseinsatz (effort) zu der wahrgenommenen Belohnung (reward) [4]. Nach dem Job-Demand-Control-Modell (JDC) stehen die Anforderungen (demand) im Ungleichgewicht zum Handlungsspielraum oder den Entscheidungsbefugnissen (control) [5].
Stressfaktor sinkt mit Aufstieg auf der Karriereleiter
„Viele junge Ärzte werden oft mit Aufgaben konfrontiert, denen sie sich noch nicht gewachsen fühlen, weil sie noch nicht genügend Erfahrung haben. Sie wünschen sich häufig hier mehr Zeit für Einarbeitung“, schätzt Sandra Bigge vom Marburger Bund Baden-Württemberg auf Anfrage von Medscape Deutschland die Situation ein. Eine Art „Praxisschock für junge Ärzte“ vermutet auch Annette Baumer von der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWGK). Es sei ein schwieriges Arbeitsumfeld, in dem sie mit großer Verantwortung für die Patienten, aber auch mit viel Bürokratie konfrontiert würden. „Es fragt sich, ob sie im Studium ausreichend auf den Klinikalltag vorbereitet wurden“, gibt Baumer zu bedenken.
bedingungen sich nicht verbessern, dass viele in andere Bereiche abwandern.“
Je weiter unten auf der Karriereleiter, desto höher der empfundene gesundheitliche Stress (ER- und JDC-Ratio >1), so ein Ergebnis der Studie. Die Stressprävalenz betrug bei Assistenzärzten 63,8%, bei Fachärzten 54,3% bei Oberärzten 46,0% und bei Chefärzten lediglich 24,6%. Wie erklären sich diese Unterschiede?
„Wer über einen größeren Entscheidungsspielraum verfügt, fühlt sich weniger gestresst“, sagt Bauer. „Assistenzärzte fühlen sich vielleicht eher von außen bestimmt, weil sie meist weniger Einfluss auf den Arbeitsablauf oder Dienstpläne haben“, meint die Marburger Bund-Geschäftsführerin Bigge. Chefärzte könnten hingegen mehr bestimmen und gestalten, auch wenn sie immer mehr im Dilemma steckten, was Medizin leisten möchte und was finanziell in den Krankenhäusern tatsächlich machbar ist.
Weitere mögliche Stressfaktoren seien vor allem für junge Ärzte Wochenenddienste, Nachtdienste und viele Überstunden. „Die Gefahr besteht, wenn die Arbeitsbedingungen sich nicht verbessern, dass viele in andere Bereiche abwandern“, warnt Bigge.
Ärzte werden oft
mit Aufgaben konfrontiert, denen sie sich noch nicht gewachsen fühlen …“
Junge Ärzte fordern Feedback ein
Außerdem auffällig: Die Stressprävalenz bei Ärztinnen ist mit rund 59,7% um 8,2 Prozentpunkte (95% Koinfidenzintervall, 4,0-12,5) höher als bei den Männern (51,5%). „Frauen sind wahrscheinlich belasteter, weil sie häufig Familie und Karriere unter einen Hut bringen müssen“, vermutet Bigge.
Insgesamt gaben 70% der Teilnehmer gaben an, kein Feedback zu ihrer Arbeit von Kollegen oder Vorgesetzten zu erhalten. „Junge Ärzte fordern heute eher das Feedback ein als früher“, meint Bigge. Aber teilweise falle es in vielen Abteilungen noch schwer, den Wandel in der jungen Generation nachzuvollziehen.
„Möglicherweise haben junge Ärzte das Gefühl, dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird“, vermutet die BWGK-Pressereferentin Baumer. Hier seien die vorgesetzten Ärzte im Krankenhaus gefragt, die jungen Kollegen anzuleiten und zu unterstützen, betonte sie. „Für die langfristige Bindung der jungen Ärzte ist es erforderlich, in den Krankenhäusern ein gutes Betriebsklima zu schaffen und sich als guter Arbeitgeber zu etablieren.“
Gutes Betriebsklima entschärft Stress
Knapp 70% der Befragten gaben an, sich auf ihre Kollegen und Vorgesetzten verlassen zu können. Den Zusammenhalt in der Abteilung erachteten sogar 72% als gut. „Wenn die Zusammenarbeit in den Abteilungen als gut empfunden wird, ist es für den Einzelnen wesentlich leichter, die schwierigen Arbeitsbedingungen zu ertragen“, meint Bigge.
dass der Grund
für die hohe Berufszufriedenheit vieler Ärzte in
der besonderen Beziehung zu den Patienten liegt.“
Weiteres interessantes Ergebnis der Studie: Obwohl viele Ärzte Disstress erleben, ist gleichzeitig ein hoher Anteil der Befragten, „sehr zufrieden“ mit dem Beruf – immerhin trifft dies auf knapp 55% der Befragten zu. „Wir haben dies zwar nicht abgefragt, aber es könnte durchaus sein, dass der Grund für die hohe Berufszufriedenheit vieler Ärzte in der besonderen Beziehung zu den Patienten liegt“, vermutet Bauer.
Wie aussagekräftig sind die Daten?
Ein wunder Punkt der Studie ist die Frage nach der Repräsentativität der Daten. Die Rücklaufquote betrug insgesamt nur 17,2%: Lediglich 2.064 von insgesamt 12.062 Klinikärzten in Baden-Württemberg hatten auf den Fragebogen reagiert. „Es muss kritisch hinterfragt werden, ob dadurch eine Antwortverzerrung entstanden ist, das heißt entweder nur resiliente oder vulnerable Teilnehmer geantwortet haben“, schränkt Bauer ein. Die Studie sei jedoch seiner Meinung nach aussagekräftig, da sich die Verteilung der Stichprobe hinsichtlich Geschlecht, Alter und Position mit den sozioökonomischen Daten des Statistischen Bundesamtes decke, so Bauer.
Vor dem Hintergrund der gestiegenen Personalnot in Krankenhäusern und der drohnenden Abwanderung von Ärzten aus den Krankenhäusern sieht Jan Bauer Kliniken im Zugzwang, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Inzwischen gebe es auch eine neue Generation junger Ärztinnen und Ärzte, die mehr Wert auf eine Work-Life-Balance legten. Schädlicher Disstress könne vermieden werden, wenn man junge Ärzte mehr partizipieren ließe und sie mehr Einfluss auf ihre Arbeit nehmen könnten, resümiert Bauer.