Jeder Mensch ist tagtäglich einem Mix verschiedener Umweltchemikalien ausgesetzt. Einige dieser Stoffe können das Hormonsystem beeinflussen und dadurch auch auf wichtige Schritte der menschlichen Entwicklung einwirken, etwa auf die Ausbildung und Reifung des Gehirns. Offenbar kann die vorgeburtliche und frühe Belastung mit geringen Mengen hormonaktiver Substanzen wie Polychlorierten Biphenylen (PCBs) und Dioxinen das geschlechtstypische Verhalten bei Schulkindern verändern [1].
Das hat ein Forscherteam um Prof. Dr. em. Dr. Gerhard Winneke vom Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf in der Fachzeitschrift Environmental Health Perspectives veröffentlicht [1]. Die Belastung von Jungen mit den Schadstoffen war in der Beobachtungsstudie mit einem eher mädchenhaften Verhalten beim Spielen assoziiert. Mädchen hingegen legten seltener ein typisch weibliches Spielverhalten an den Tag.

„Dass hormonaktive Substanzen wie die PCBs die Entwicklung des Gehirns beeinflussen und auch Auswirkungen auf das Verhalten haben können, ist nicht neu“, sagt Dr. Margret Schlumpf von der Arbeitsgruppe für reproduktive, endokrine und Umwelttoxikologie (Greentox) an der Universität in Zürich. Eine niederländische Studie habe dies schon vor gut 10 Jahren gezeigt. Allerdings sei es beim Menschen wegen der hohen interindividuellen Variabilität von Verhaltensprozessen und der Fülle an Faktoren, die die Entwicklung des Gehirns mitbestimmten, schwer, Wirkungen von hormonaktiven Substanzen auf das Verhalten zu identifizieren, sagt Schlumpf.
Hohe PCB- und Dioxinbelastung „feminisiert“ männliche Nachkommen
Für die Teilnahme an der aktuellen Studie hatten sich zwischen September 2000 und Oktober 2002 insgesamt 232 schwangere Frauen bereit erklärt. Um die Konzentration von insgesamt 35 verschiedenen PCBs und Dioxinen zu bestimmen, war den Frauen etwa zum Zeitpunkt der 32. Schwangerschaftswoche Blut abgenommen worden. Nach der Geburt wurde eine Probe der Muttermilch von den stillenden Müttern auf die gleichen Schadstoffe hin untersucht.
6 bis 8 Jahre später erhielten die Eltern einen Fragebogen, mit dessen Hilfe die typischen Spielaktivitäten der Kinder, die zu dieser Zeit im Grundschulalter waren, ermittelt werden sollten. Zwischen 91 und 109 Kinder konnten in diesem Follow-up eingeschlossen werden, jeweils etwa zur Hälfte Mädchen und Jungen.
Die statistische Auswertung zeigte: Eine höhere Belastung des mütterlichen Blutes bzw. der Milch mit Dioxinen und PCBs war bei Jungen mit weiblicherem Verhalten, bei Mädchen mit weniger weiblicherem Spielverhalten assoziiert. Die Ergebnisse der Düsseldorfer Forscher stimmen dabei nur teilweise mit der gut 10 Jahre alten niederländischen Arbeit von Hestien Vreugdenhil und anderen Mitarbeitern der Abteilung für Pädiatrie und Neonatologie an der Erasmus Universität in Rotterdam überein [2]. Diese hatten höhere mütterliche Dioxin-Belastungen zwar ebenfalls mit stärker weiblichen Spielverhalten bei Jungen und Mädchen assoziieren können.
Die niedrigen „Masculinity-Scores“, die die statistische Analyse der Niederländer bei Jungen mit höherer PCB-Belastung ergab, konnte die Düsseldorfer Studie jedoch nicht zeigen. „Insgesamt ergibt sich kein klares, ein in manchen Aspekten auch widersprüchliches Bild“, schreibt der Toxikologe und Umweltmediziner Prof. Dr. Karl Ernst von Mühlendahl, Leiter der kinderärztlichen Beratungsstelle für Allergien und Umweltfragen in Osnabrück, in einem Kommentar zur aktuellen Studie [3].
Selbst geringe Mengen an Umweltgiften entfalten Hormonwirkung
Die Unterschiede zwischen den beiden Studien könnten durch verschiedene Faktoren begünstigt worden sein. So lag die gemessene Schadstoffbelastung bei den niederländischen Müttern vor 10 Jahren noch um das 2 bis 3-fache höher als jetzt in der „Duisburg-Kohorte“. Die Studiengruppen waren jeweils recht klein und das Spielverhalten wurde in beiden Fällen über einen Fragebogen ermittelt, den die Eltern nach ihrer Einschätzung ausfüllten. Ärzte oder Psychologen schauten sich die Kinder nicht an. Der Fragebogen war eigentlich für Vorschulkinder entwickelt worden und fragte die Nutzung von heute weitverbreiteten Computerspielen nicht ab.
Trotz vieler Unsicherheiten gäbe es zahlreiche Hinweise darauf, dass geringe Mengen an Umweltgiften auch beim Menschen Einfluss auf die Entwicklung des Hormonsystems und auf die sexuelle Prägung haben könnten, meint von Mühlendahl. „Diese Beobachtungen sind ernst zu nehmen und bedürfen unbedingt weiterer Beachtung und Forschung“, sagt der Toxikologe. Auch die Studienautoren selbst beurteilen ihr Ergebnis vorsichtig. „Aus einer einzigen Observationsstudie wie der unseren, kann man keine ursächlichen Rückschlüsse ziehen. Dies ist nur im Kontext mit zusätzlichen Informationen möglich“, schreiben Winneke und seine Kollegen.
Diese zusätzlichen Informationen kommen zum Beispiel aus Untersuchungen am Tiermodell. Hier konnte unter anderem gezeigt werden, wie die PCBs die Synthese und Aktivität von Hormonen und Enzymen im Hypothalamus stören, was sich nicht nur auf das Verhalten der Tiere sondern auch auf die Ausbildung der Geschlechtsorgane (z. B. geringeres Hodengewicht bei Männchen) auswirkt.
800 Umwelt-Chemikalien können hormonelle Wirkung entfalten
Wie schwierig es ist, zwischen Schadstoffbelastung und Verhalten eine Ursache- Wirkungsbeziehung herzustellen, betont auch ein Bericht, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen mit dem United Nations Environment Programme in diesem Jahr zum Thema „Endokrine Disruptoren“ zusammengestellt hat [4].
Dort heißt es: „Wegen der Komplexität der Exposition und der Krankheitsentstehung über die gesamte Lebenspanne hinweg wird es nie möglich sein, eine bestimmte Exposition (mit hormonaktiven Stoffen) als Auslöser für eine bestimmte Krankheit oder Fehlfunktion auszumachen.“
„Man hat es mit einer Unmenge an verschiedenen Stoffen zu tun; einer riesigen Mischung, die ein Kind oder ein Ungeborenes serviert bekommt“, sagt auch die Schweizer Toxikologin Schlumpf. Alle diese Substanzen würden ihre Wirkung auf verschiedenen Ebenen im Körper entfalten. „Der Wust an Stoffen macht uns Sorgen. Wir wissen noch nicht einmal, wie wir das methodisch angehen sollen“, sagt die Toxikologin.
Bezogen auf all die Probleme, die hormonaktive Substanzen mit sich brächten, sei zurzeit aber erst die Spitze des Eisberges zu sehen, ist sich Schlumpf sicher. Nach Angaben der WHO kennt man bisher ungefähr 800 Chemikalien, die mit hormonellen Signalwegen interagieren können. Man findet sie nicht nur unter den persistenten organischen Schadstoffe (wie in der aktuellen Studie PCBs und Dioxine) sondern auch in Pestiziden, in Plastikbestandteilen wie Bisphenol A, unter Weichmachern in Plastik wie den Phthalaten und auch in Kosmetika (z.B. als UV-Filter).
Besorgniserregend sei laut der WHO der weltweit ansteigende Trend bei Erkrankungen, die in einem Zusammenhang mit dem Hormonsystem des Menschen stehen. In einigen Ländern haben bis zu 40% der jungen Männer eine mangelhafte Spermienqualität und immer mehr junge Frauen bekommen Brustkrebs. Das Krankheitsrisiko, das mit hormonaktiven Stoffen und besonders auch mit Mischungen derselben verbunden ist, werde deutlich unterschätzt. Es gäbe noch viele Wissenslücken, die nicht ignoriert sondern geschlossen werden müssten, so der WHO-Bericht.
Leider interessierten sich für das Thema immer nur die Menschen, die unmittelbar betroffen sind, wie etwa junge Mütter, beklagt die Zürcher Expertin für Toxikologie und fordert: „Aber auch die Politik ist gefordert derzeitige Regelungen zu erweitern, dass Chemikalien nicht nur im klassischen toxikologischen Sinn sondern auch im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Hormone und Fortpflanzung bewertet werden.“