Nur 8 Meter abseits der Piste fährt er den Berg hinab – nicht rasend schnell, sondern in angemessener Geschwindigkeit. Ein Felsen stoppt abrupt seine Fahrt. Mit dem Kopf prallt er so hart auf, dass sein Helm zerberstet. So schildert Patrick Quincy am Mittwoch auf einer Pressekonferenz im französischen Albertville den „Fall Schumacher“. Der Staatsanwalt hat zusammen mit seinen Kollegen die Helmkamera des 7-fachen Formel-1-Weltmeisters ausgewertet. Darauf zu sehen: Die letzten Minuten vor seinem tragischen Unfall.

Ganz Deutschland bangt zurzeit um seinen Lieblings-Rennfahrer. Sein Unfall ereignete sich kurz vor Silvester. Auch nach mehreren Operationen und tagelanger Intensivbehandlung befindet sich Schumacher noch immer in Lebensgefahr und seine Prognose ist ungewiss.
Schumachers Schicksal ist kein Einzelfall. Prof. Dr. Manfred Westphal, ärztlicher Leiter der Neurochirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf erklärt, wieso Kopfverletzungen im Freizeitsport weiter zunehmen und welche – meist eingeschränkten – therapeutischen Maßnahmen es für die oft schwer kontrollierbaren Blutungen gibt.
Medscape Deutschland: Das Schädel-Hirn-Trauma bekommt durch den „Patienten Schumacher“ zurzeit viel Medienaufmerksamkeit. Sind so schwere Kopfverletzungen im Freizeitsport eher eine Ausnahme?
Prof. Westphal: Wie viele schwere Schädel-Hirn-Traumata im Haushalt und wie viele beim Sport entstehen, ist nur schwer zu sagen. Dazu gibt es kaum verlässliche Erhebungen, zumal die Unterscheidung nicht immer leicht ist. Was wir aber wissen, ist, dass es eine gegensinnige Entwicklung bei Sport- und Verkehrsunfällen gibt: Während Sportunfälle mit schweren Kopfverletzungen zunehmen, gibt es zunehmend weniger Verkehrsunfälle mit entsprechenden Verletzungen.
Medscape Deutschland: Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Prof. Westphal: Das Interesse an risikoreichen Sportarten ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Alpinklettern, Mountainbiking und Freeriden sind heutzutage keine Seltenheit mehr. Entsprechend häufig sind mitunter schwerwiegende Sportverletzungen. Hinzu kommt, dass auch ältere Menschen mit höherem Verletzungsrisiko öfter Sport treiben. Auf der anderen Seite gibt es im Verkehrswesen mittlerweile zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen: Gurtpflicht, Airbags und die steigende Bereitschaft, als Radfahrer Helm zu tragen, konnten das Risiko für schwerwiegende Kopfverletzungen deutlich mindern.
Medscape Deutschland: Andererseits tragen auch immer mehr Skifahrer Helm. Nach Schumachers Unfall scheint es aber so, als bleibe der Skisport trotz aller Sicherheitsmaßnahmen sehr riskant.
Prof. Westphal: Unglücksfälle gibt es natürlich immer. Allerdings muss man sich fragen, was wohl ohne Helm passiert wäre – wahrscheinlich hätte dies den umgehenden Tod zur Folge gehabt. Helm, Schutzkleidung und vor allem vorausschauendes Denken können erwiesenermaßen das Verletzungsrisiko deutlich mindern. Allerdings wird hierüber viel zu wenig aufgeklärt.
Medscape Deutschland: Was wären denn denkbare Aufklärungsmaßnahmen?
Prof. Westphal: Mit Hilfe von institutionellen Partnern, etwa medizinischen Fachgesellschaften und Regierungsorganisationen, sollte am besten schon in der Schule über das Unfallrisiko im Sport und im Alltag aufgeklärt werden. In den USA gibt es dazu bereits einige schöne Beispiele wie die Think First Campaign. Prävention ist zurzeit die beste Waffe, die uns gegen Schädel-Hirn-Traumata zur Verfügung steht.
Medscape Deutschland: Tatsächlich scheinen die Behandlungsmöglichkeiten bei einem schweren Schädel-Hirn-Trauma begrenzt zu sein. Was macht die Therapie so schwierig?
Prof. Westphal: Die Behandlung von Schädel-Hirn-Verletzungen umfasst vor allem fünf Grundmaßnahmen: Operative Entlastung von Raumforderungen wie Blutungen, Senkung des Hirndrucks durch Gabe von Hirn-abschwellenden Medikamenten, Herabsetzung des Energiestoffwechsels durch tiefe Narkose und forcierte Beatmung und gegebenenfalls Kühlung des Gehirns sowie die Sicherung einer ausreichenden Hirndurchblutung. Mit all diesen Methoden wollen wir erreichen, dass möglichst viel von der vom Zelltod bedrohten Hirnmasse erhalten bleibt. Für bereits abgestorbene Areale können wir dagegen nichts mehr tun, es gibt keine operative „Reparatur“.
Medscape Deutschland: Welche Umstände erschweren die Regeneration von verletzten Arealen?
Prof. Westphal: Vor allem eine massive Hirnschwellung lässt sich nur schwer behandeln. Einzelne Hämatome können, wie auch im Fall Schumacher, operativ entfernt werden. Kommen allerdings vielfache kleine Blutungen in der Tiefe des Gehirns als Spuren einer über das Gehirn hinweggelaufenen Druckwelle hinzu, und lässt sich der Hirndruck durch alle angegebenen Maßnahmen nicht beherrschen, bleibt als Verzweiflungsmaßnahme oft nur die großzügige Entfernung der knöchernen Schädeldecke (Entlastungskraniektomie), um dem anschwellenden Gehirn mehr Raum zu verschaffen. Der therapeutische Erfolg ist mittels Studien allerdings nur schwer zu bestimmen und derzeit eher für Jugendliche und junge Erwachsene belegt.
Medscape Deutschland: Welche therapeutischen Maßnahmen waren im Fall „Schumacher“ bisher nötig?
Prof. Westphal: Bislang ist zu wenig über seinen Zustand bekannt, um dazu eine verlässliche Aussage treffen zu können. Sicherlich wird man ein aggressives Hirndruckmanagement betrieben haben. Das ist in der Neuro-Intensivmedizin ein absoluter Standard.
Medscape Deutschland: Es scheint, als sei es zurzeit ebenso schwer, eine verlässliche Prognose für Schumacher zu treffen. Wieso lässt sich der Verlauf bei Schädel-Hirn-Traumata so schwer abschätzen?
Prof. Westphal: Zunächst ist es in den ersten Tagen nahezu unmöglich, von dem Eindruck aus den bildgebenden Verfahren (Computertomografie/ Kernspintomografie) auf die funktionelle Schwere der Verletzung zu schließen. Aber auch Hirnareale, die nicht zerstört worden sind, brauchen sehr lange, bis sie ihre Funktion wieder aufnehmen können. Zudem müssen neue Verschaltungen für jene Areale gebildet werden, die den Sauerstoff- und Nährstoffmangel nicht überlebt haben. Inwieweit durch Gewebsuntergang verlorene Funktionen mit Hilfe von neu gebildeten Verschaltungen in verbliebenen Hirnarealen wiedererlangt werden können, lässt sich frühestens nach etwa einem halben Jahr abschätzen. Denn zu diesem Zeitpunkt werden erste Anzeichen für Kontaktfähigkeit und zielgerichtetes Handeln sichtbar. Doch selbst dann kann keine endgültige Prognose getroffen werden, welches Funktionsniveau gegebenenfalls nach zwei bis drei Jahren erreicht werden kann. Der Heilungsprozess derselben Verletzung kann individuell sehr unterschiedlich sein.
Medscape Deutschland: Gibt es denn initiale Parameter, die auf eine schlechte Prognose hindeuten?
Prof. Westphal: Tritt die Bewusstlosigkeit direkt nach dem Unfall oder wenige Minuten später ein, dann ist das in der Regel ein schlechtes Zeichen. Bei jedem Patienten wird sogleich nach Eintreffen in einer Klinik ein Computertomogramm des Schädels gemacht. Wenn dieses passend zur tiefen Bewusstlosigkeit eine massive generelle Hirnschwellung zeigt, deutet dies ebenso auf eine schlechte Prognose hin.
Medscape Deutschland: Herr Professor Westphal, herzlichen Dank für das Gespräch.