Neue Alzheimer-Studie: Hochdosiertes Vitamin E verzögert Pflegebedürftigkeit

Julia Rommelfanger | 9. Januar 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Neue Hoffnung für Patienten mit Morbus Alzheimer, Angehörige und Pflegende? Durch hochdosiertes Vitamin E können Alltagsfunktionen der Patienten länger bewahrt werden und so kann die Pflegebedürftigkeit eventuell hinausgezögert werden. Dies hat eine neue randomisierte US-Studie ergeben, die im Journal of the American Medical Association (JAMA) publiziert worden ist [1].

Dr. Gunter Eckert, Leiter der Studiengruppe Nutritional Neuroscience an der Frankfurter Goethe-Universität äußert sich „überrascht“ über das positive Ergebnis. Denn die meisten Meta-Analysen klinischer Studien zur Vitamin E-Gabe – die aktuellste von 2012 – hätten keine Verbesserung der Krankheitszeichen des Morbus Alzheimer ergeben, erklärt Eckert gegenüber Medscape Deutschland.

„Enthusiasmus ist im Bereich der Alzheimer Forschung nicht angebracht. Zu viele hoffnungsvolle Studien konnten nicht reproduziert werden oder hielten nicht, was sie versprachen.“
Dr. Gunter Eckert

In der aktuellen Studie verlangsamte sich bei Patienten mit leichter bis mittelschwerer Demenz, unter hoch dosiertem Alpha-Tocopherol der Verlust von Alltagsfunktionen jährlich um 19%. Die Vitamin-E-Dosis war damit etwa 20 Mal höher als in handelsüblichen Vitaminpräparaten. In durchschnittlich 2,27 Jahren Follow-up ergab sich so eine Verzögerung von 6,2 Monaten im Vergleich zu Placebo. Die Betreuungszeit der Patienten durch Pflegekräfte konnte in der Vitamin E-Gruppe um 2 Stunden pro Tag reduziert werden. Dagegen hatte die Behandlung mit dem Antidementivum Memantin, ebenso wie die Kombination von Vitamin E und Memantin, keinen Effekt.

Vitamin E war Memantin und Placebo überlegen

Die Studie (TEAM-AD VA Cooperative Randomized Trial) wurde in 14 Veteranen-Einrichtungen in den USA vorgenommen. Die 613 Patienten (97% Männer, Durchschnittsalter: 78,8 Jahre) waren bereits mit Antidementiva aus der Gruppe der Cholinesterasehemmer (65% Donepezil, 32% Galantamin, 3% Rivastigmine) vorbehandelt. Sie wurden in 4 Behandlungsgruppen aufgeteilt und erhielten zusätzlich zum Cholinesterasehemmer Alpha-Tocopherol (2000 IU/Tag) oder Memantin (20 mg/Tag) oder die Kombination beider Präparate oder Placebo. Die Behandlungsdauer variierte zwischen 6 Monaten und 4 Jahren und betrug im Schnitt 2,27 Jahre.

Primärer Endpunkt der Studie war der Alzheimer’s Disease Cooperative Study – Activities of Daily Living (ADCS-ADL)-Test (Skala von 0-78), der Fertigkeiten und Aktivitäten des täglichen Lebens mit Punktzahlen belegt und so die Alltagsfähigkeiten bzw. die Pflegebedürftigkeit der Patienten indiziert. Obwohl in keiner der Gruppen der degenerativen Verlauf der Krankheit aufgehalten werden konnte, wiesen die Patienten in der Vitamin-E-Gruppe signifikant bessere ADCS-ADL-Scores auf.

Die Abnahme war mit 13,81 Punkten um 3,15 Punkte geringer als in der Placebo-Gruppe. „Eine solche Größenordnung könnte den totalen Verlust der Fähigkeit, sich selbst anzuziehen oder zu baden bedeuten“, erklären die Autoren. Sie bezeichnen das Ergebnis als „bedeutsamen Behandlungseffekt“. Zudem konnte die Betreuungszeit in der Vitamin-E-Gruppe um täglich 2 Stunden reduziert werden.

„Von einem Durchbruch kann man keinesfalls sprechen. Das Thema Vitamin E und Alzheimer wird seit über einer Dekade intensiv beforscht, mit zuallermeist negativem Ausgang.“
Dr. Gunter Eckert

„Aufgrund des geringen Preises von Vitamin E könnten sich diese Vorteile kostensparend auswirken, da Alpha-Tocopherol funktionelle Kriterien verbessert und die Belastung der Pflegekräfte reduziert“, resümiert die Forschergruppe um Dr. Maurice Dysken vom Minneapolis VA Care System.

Vitamin E hatte in dieser Studie, anderes als in der Meta-Analyse von 2005, keine Auswirkungen auf die Mortalität der Patienten. Allerdings hatte keine der Therapien Auswirkungen auf den sekundären Endpunkt, die kognitive Funktion der Patienten, gemessen anhand des Mini-Mental State Examination (MMSE) und Alzheimer’s Disease Assessment Scale-cognitive subscale (ADAS-cog). Bemerkenswerterweise konnten oder wollten 42% der randomisierten Teilnehmer die Studie nicht zu Ende führen: 128 starben während des Studienzeitraums, 77 zogen ihre Zustimmung vor Beendigung der Studie zurück.

Enthusiasmus nicht angebracht

„Dass die aktuelle Studie im renommierten JAMA erschienen ist, verleiht ihr schon eine gewisse Bedeutung“, sagt Eckert. „Die Ergebnisse implizieren, dass Alzheimer-Patienten mit moderater Demenz von einer langfristigen Einnahme hoher Vitamin-E-Dosen profitieren.“ Allerdings überwiegt bei ihm die Skepsis: „Enthusiasmus ist im Bereich der Alzheimer Forschung nicht angebracht. Zu viele hoffnungsvolle Studien konnten nicht reproduziert werden oder hielten nicht, was sie versprachen“, erklärt er.

Eine Meta-Analyse von 2005 hätte sogar einen Anstieg der allgemeinen Mortalität bei Vitamin-E-Dosen, die höher waren als 400 IU/Tag gezeigt [2]. Zudem bestätige die aktuelle Studie, dass Vitamin E die kognitiven Fähigkeiten von Alzheimer-Patienten nicht verbessern kann.

„Von einem Durchbruch kann man keinesfalls sprechen“, resümiert Eckert. „Das Thema Vitamin E und Alzheimer wird seit über einer Dekade intensiv beforscht, mit zuallermeist negativem Ausgang. Dies erklärt auch meine Skepsis gegenüber einer Generalisierung der Ergebnisse.“ In früheren Untersuchungen haben sich schon positive Effekte von Vitamin E auf die Alltagsfähigkeit von Alzheimer-Patienten angedeutet. Möglicherweise wurden diese in der vorliegenden Studie signifikant, da diese sehr gut geplant und alle Varianzen gut kontrolliert wurden“, vermutet er.

„Die Einhaltung der Medikation war moderat und der Verlust während des Follow-up stärker als optimal erreichbar“, kommentiert Dr. Denis Evans vom Rush University Medical Center in Chicago in einem Editorial zur Studie [3]. „Das spiegelt die praktischen Herausforderungen einer randomisierten Studie bei Menschen mit dieser Krankheit in hohem Alter wider. Er bezeichnet die Verzögerung des Verlustes an Alltagsfähigkeiten von 19% als „ziemlich bescheiden“ und den Behandlungseffekt als „eher relevant hinsichtlich Symptomen und Auswirkungen einer Alzheimer-Erkrankung und nicht hinsichtlich der Umkehrung des Krankheitsverlaufs“.

„Keinesfalls sollten Alzheimer-Patienten nun pauschal hohe Vitamin-E-Dosen zu sich nehmen.“
Dr. Gunter Eckert

Er verweist besonders darauf, dass die Therapie mit Memantin, das in Europa und den USA zur Behandlung bei moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz zugelassen sei, in der Studie keinerlei Vorteile hatte – weder hinsichtlich kognitiver noch funktionaler Fähigkeiten.

Experten warnen vor pauschalem Einsatz von Vitamin E

Aufgrund der heterogenen Ergebnisse zur Gabe von Vitamin E in bisherigen Studien warnt Evans genau wie andere Experten vor einem unkritischen und pauschalen Einsatz des Vitamins bei Demenzkranken. Dabei weist er nochmals ausdrücklich auf mögliche schädliche Wirkungen hin, die die Meta-Analyse von 2005 gezeigt hatte.

„Keinesfalls sollten Alzheimer-Patienten nun pauschal hohe Vitamin-E-Dosen zu sich nehmen“, sagt auch Eckert gegenüber Medscape Deutschland. Das Sturz-Risiko sowie kardiovaskuläre Risiken etwa könnten sich, wie sich in früheren Studien angedeutet hat, durch eine Vitamin-E-Einnahme erhöhen. „Gleichwohl sollten sowohl gesunde Menschen als auch an Alzheimer Erkrankte auf eine gute Vitamin-E-Versorgung achten – allerdings über die Ernährung, etwa durch Verwendung von hochwertigen Weizenkeim- oder Sonnenblumenölen oder den Verzehr von Nüssen“, erklärt der Pharmakologe und Lebensmittelchemiker.

Neuer Ansatz: Tocotrienole aus Reiskleie

Mit seiner Studiengruppe untersucht Eckert aktuell einen Extrakt aus Reiskleie, der reich ist an Tocotrienolen, Vitamin-E-Derivaten, die bis zu 40 Mal aktiver sind als Tocopherole. Der Extrakt, erklärt Eckert, könnte die Bildung von Mitochondrien im Gehirn anregen, wie erste Fütterungsversuche mit Meerschweinchen und Mäusen zeigten. „Dieser Effekt kann möglicherweise die bei Hirnalterungsprozessen und der Alzheimer-Demenz auftretenden mitochondrialen Dysfunktionen verbessern.“

Daher entwickelt seine Arbeitsgruppe an der Goethe-Universität Frankfurt gemeinsam mit der Universität Hohenheim sowie den Firmen Vivacell Biotechnologie GmbH und FB Food GmbH für Senioren in Pflegeheimen ein Lebensmittel auf Haferbasis, das mit Reiskleie-Extrakt angereichert ist. Das Projekt, das am 1. Februar 2014 startet, wird vom Bundeswirtschaftsministerium unterstützt.

Referenzen

Referenzen

  1. Dysken MW, et al: JAMA 2014;311(1):29-30
    http://dx.doi.org/10.1001/jama.2013.282834
  2. Miller ER III, et al: Ann Intern Med. 2005;142(1):37-46
    http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15537682
  3. Evans DA, et al: JAMA 2014;311(1):33-44
    http://dx.doi.org/10.1001/jama.2013.282835

Autoren und Interessenkonflikte

Julia Rommelfanger
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Eckert G: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

Evans DA: Dr. Evans hat finanzielle Unterstützung von den National Institutes of Health erhalten.

Dysken MW: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

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