Beratung und Programme zur Gewichtsreduktion
Ein zentraler Lehrsatz der neuen US-Empfehlungen ist: Der Arzt muss einsehen, dass der Patient Hilfe bei der Gewichtsabnahme benötigt. „Wir stellen fest, dass es nicht ausreicht, dem Patienten zu sagen, dass er übergewichtig ist und abnehmen muss. Zwar schaffen manche Patienten es, aber die meisten eben nicht. Sie brauchen Hilfe dabei, die Fähigkeiten zu erwerben, um ein Energiedefizit zu erzeugen und beizubehalten“, so Ryan.
Laut Ryan bestehe der „Goldstandard“ der Unterstützung des Patienten in einer Beratung zu dessen Verhaltensweisen, die ihm aufzeige, wie er seine körperliche Aktivität steigern und seine Kalorienzufuhr reduzieren könne. Diese sollte über mindestens 6 Monate im Rahmen eines intensiven Programms in der Praxis oder Klinik, einzeln oder in Gruppen und durch einen entsprechend qualifizierten Mitarbeiter des Gesundheitswesens erfolgen.
Daten deuten darauf hin, dass solche Programme „zuverlässig zu einer mäßigen Gewichtsreduktion zwischen 5 und 10 Prozent führen können“, betonte Ryan. Ist ein solches Programm nicht durchführbar, kommen auch internetbasierte, telefonische oder sogar bestimmte kommerzielle Programme infrage.
Für die neue deutsche Leitlinie haben Wirth und seine Mitautoren geprüft, zu welchen Gewichtsreduktionsprogrammen es eine veröffentlichte Datenbasis gibt, die Aussagen zu den Erfolgsaussichten erlaubt. Programme, für die eine Evaluierung auf Grundlage solcher Daten vorliegt, werden in der neuen deutschen Leitlinie beschrieben und miteinander verglichen, um eine Hilfestellung für die Wahl des jeweils geeigneten Programms zu bieten.
„Die Kosten für solche Programme können ganz unterschiedlich ausfallen — das reicht von 50 Euro bis zu mehreren Tausend Euro für ein halbes Jahr. Aber auch hier gilt, dass die Programme im Erfolgsfall zu erheblichen Kostensenkungen für das Gesundheitswesen beitragen, sodass eine Kostenübernahme durch die Krankenversicherer im Interesse der Gesellschaft ist.“
An der bariatrischen Chirurgie scheiden sich die Geister
Bei Patienten mit einem BMI ab 35 kg/m2 und einer Komorbidität oder mit einem BMI ab 40 kg/m2 auch ohne Komorbiditäten weist die US-Empfehlung den Arzt darauf hin, „dass eine bariatrische Operation ein angemessener Ansatz zur Verbesserung der Gesundheit sein kann“, so Ryan. Die Leitlinie empfiehlt dem Arzt, betroffene Patienten zu einer Beratung und Beurteilung an einen erfahrenen bariatrischen Chirurgen zu überweisen. Auch diese Leitlinie stellt also, wie Ryan anmerkte, „eine Bestätigung der bariatrischen Chirurgie bei Hochrisikopatienten dar.“
An diesem Punkt bestehe, laut Wirth, die größte Abweichung zwischen den neuen deutschen und den neuen amerikanischen Empfehlungen: „Wir empfehlen zwar auch die Erwägung der Operation grundsätzlich ab einem BMI von mehr als 40 kg/m² und im Bereich von 35 bis 40 kg/m² bei entsprechenden Begleiterkrankungen und einem psychischen Leidensdruck. Dazu kommen jedoch noch Patienten mit einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m², die an einem therapierefraktären Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt sind und damit Sonderfälle darstellen.
Neben diesen Indikationen empfehlen wir jetzt bei bestimmten Patienten auch ohne den Versuch einer konservativen Therapie, den bariatrischen Eingriff in Erwägung zu ziehen. Dabei handelt es sich um Patienten, die bei extremer Adipositas einen BMI >50 kg/m² aufweisen und bei denen im Grunde klar ist, dass eine konservative Behandlung fehlschlagen muss – etwa bei besonders schweren Begleit- und Folgeerkrankungen wie einer schmerzhaften Gonarthrose, die Bewegungstherapien behindert, oder bei psychosozialen Umständen, die es dem Patienten unmöglich machen, mit konservativen Verfahren Gewicht zu verlieren."
Keine evidenzbasierten Medikamenten-Empfehlungen
Was durch Abwesenheit in der US-Leitlinie auffällt, sind evidenzbasierte Vorschläge für den Einsatz der aktuell zugelassenen Adipositasarzneimittel zur Unterstützung der Gewichtsabnahme. Laut Ryan waren als einzige Medikamente Sibutramin und Orlistat auf dem Markt, als die kritischen Fragen entwickelt wurden, auf denen die neuen Leitlinien gründen. Inzwischen ist Sibutramin wieder vom Markt genommen worden.
Da es keine verlässliche Datengrundlage gibt, erarbeiteten die US-Autoren anhand von Expertenmeinungen einen Behandlungsalgorithmus für den Einsatz der verfügbaren pharmazeutischen Therapeutika zur Adipositasbehandlung.
Dieser Behandlungsansatz wird laut Ryan empfohlen „für Patienten, die mit umfangreichen Änderungen ihrer Lebensweise allein keine Gewichtsreduktion erzielen oder beibehalten können.“ Sollte dies der Fall sein, sehen die Leitlinien vor, bei Patienten mit einem BMI ab 30 kg/m² oder mit einem BMI ab 27 kg/m² mit Komorbiditäten eines der verfügbaren Mittel zur Adipositasbehandlung einzusetzen. Die Behandlung sollte, wie von der US-Aufsichtsbehörde Food and Drug Administration (FDA) vorgesehen, zunächst über einen Zeitraum von 12 Wochen erfolgen. Danach ist zu prüfen, ob der Patient abgenommen hat. „Ist das nicht der Fall, sollte die Behandlung abgesetzt werden, da sie nicht wirkt“, so Ryan.
Angesichts der voraussichtlichen Zulassung mindestens zweier weiterer Adipositasmedikamente in den USA im kommenden Jahr geht Ryan davon aus, dass sich eine künftige evidenzbasierte Leitlinie mit der Pharmakotherapie befassen wird. Eine solche Leitlinie dürfe man hoffentlich in etwa einem Jahr erwarten.
Die neue deutsche Leitlinie wird, laut Wirth, Orlistat als einziges Arzneimittel zur Adipositasbehandlung empfehlen, wobei die konkreten Empfehlungskriterien mit denen der US-amerikanischen übereinstimmen sollen.
Leitlinie ist Teil neuer Empfehlungen zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Laut Ryan beruht die neue US-Adipositasleitlinie „ausschließlich auf den allerbesten randomisierten Studien oder den allerbesten epidemiologischen Studien. Daher kann es Fragen geben, die ... sich dem Kliniker stellen, ... auf die es keine Antworten gibt.“
Die Autorenkommission habe 5 kritische Fragen herausgearbeitet, anhand derer sie ihre Empfehlungen erstellt habe, erklärte Ryan. Diese Fragen waren:
- Wer muss abnehmen?
- Welchen Nutzen hat die Gewichtsreduktion, und welche Reduktion ist dafür erforderlich?
- Welche Kostform ist die beste?
- Wie wirksam sind Interventionen bezüglich der Lebensweise?
- Welche Nutzen und Risiken haben bariatrisch-chirurgische Verfahren?
Die neuen US-Adipositas-Leitlinien gehören zu den 4 neuen Dokumenten, die Bestandteil des Pakets lange erwarteter, vom NHLBI gesponsorter Leitlinien zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind. Diese wurden gemeinsam mit dem ACC/der AHA und, im Fall der Adipositas-Leitlinien, der Obesity Society erarbeitet.
Aktualisierung der Leitlinie soll noch 2014 beginnen
Der nächste Schritt ist wahrscheinlich der wichtigste überhaupt: „Die Umsetzung dieser Leitlinien, die Überführung in die Praxis“, so Ryan. Auch sonst ist die Arbeit noch lange nicht getan, räumte sie ein. Die Expertengruppe hat noch keine nach 2011 erhobenen Daten einbezogen. Die kooperierenden Gesellschaften planen daher, bereits 2014 mit der Aktualisierung der Leitlinien zu beginnen.
Künftige Leitlinien sollen nicht nur Empfehlungen zur Pharmakotherapie enthalten, sondern müssen sich auch wichtigen Fragen zur körperlichen Aktivität widmen, beispielsweise welche Bewegungsformen am besten in die umfassenden Interventionsprogramme zur Lebensführung aufgenommen werden sollten. Eine weitere wichtige Frage gilt der Gewichtszunahme unter Medikamenteneinnahme allgemein, „die bei unsachgemäßem Arzneimittelgebrauch ein großes Problem sein kann.“ Wie Ryan gegenüber Medscape Medical News erklärte, arbeitet die American Academy of Clinical Endocrinologists (AACE) derzeit an Leitlinien zu diesem Thema.
Auf die in der aktuellen Fassung der US-Leitlinien fehlenden Empfehlungen zur Bewegungstherapie geht auch Wirth gegenüber Medscape Deutschland ein: „Dieser Aspekt spielt in der neuen deutschen Leitlinie eine wichtige Rolle. Dabei kommt es unter anderem darauf an, den Patienten zu vermitteln, dass sie sich wirklich viel bewegen müssen, wenn sie dadurch abnehmen wollen. Viele denken, da sei es mit gelegentlichem Spazierengehen oder Gymnastik getan und sind dann schnell frustriert, wenn sich auf der Waage nichts tut. Da ist eine gute Beratung wirklich wichtig."
Abschließend weist Wirth noch auf einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen der deutschen und der amerikanischen Leitlinie hin: „In der US-Leitlinie fehlt die Prävention. Wir haben die ja schon mit im Titel, und meiner Meinung nach ist das ein ganz wichtiger Punkt: Man muss verhindern, dass die Menschen überhaupt erst übergewichtig und dann adipös werden, denn das Abnehmen ist schwierig und leider bei vielen dauerhaft gar nicht möglich. Deshalb spielen Präventionsmaßnahmen in der deutschen Leitlinie eine wichtige Rolle. Dazu gehören die Empfehlungen, sich regelmäßig körperlich zu bewegen, Alkoholkonsum und Verzehr von Fastfood zu reduzieren.“
Dieser Text wurde übersetzt und bearbeitet von Dr. Ulrike Walter-Lipow.