Übergewicht und Adipositas: Neue US-Leitlinie soll vor allem Hausärzte unterstützen

Lisa Nainggolan | 8. Januar 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Mitte November 2013 hat das US National Heart, Lung, and Blood Institute (NHLBI) seit 15 Jahren erstmals neue Leitlinien zum Umgang mit Übergewicht und Adipositas verabschiedet [1]. Es ist erst die 2. Ausgabe dieser Leitlinien überhaupt.

Die seit langem erwarteten, vom NHLBI konzipierten und vom American College of Cardiology (ACC), der American Heart Association (AHA) und der Obesity Society veröffentlichten Empfehlungen konzentrieren sich darauf, „Hausärzten dabei zu helfen, die Gesundheit ihrer Patienten zu fördern, indem sie auf deren Gewicht achten“, wie die Ko-Vorsitzende der Autorenkommission, Dr. Donna Ryan vom Pennington Biomedical Research Center der Louisiana State Universität in Baton Rouge, während einer telefonischen Pressekonferenz erklärte.

„Zweck dieser Leitlinien zur Adipositas ist es …, maßgebliche, verlässliche Informationen zu liefern, mit denen der Hausarzt seinen Patienten helfen kann.“
Dr. Donna Ryan

„Wer sich schon mit Adipositas befasst hat, wird diese Leitlinien nicht als weltbewegende Neuerung auffassen“, so Ryan gegenüber Medscape Medical News. „Man muss sich aber klarmachen, in welchem Kontext die Hausärzte arbeiten – sie sind überwiegend nicht in der Ätiologie und Pathogenese der Adipositas geschult und noch weniger in der entsprechenden Diagnostik und den Behandlungsmöglichkeiten. Zudem bewegen sich Hausärzte in einem Umfeld, in dem es von Falschinformationen zur Gewichtsreduktion nur so wimmelt, und das Nahrungsergänzungsmittel und Diätprodukte oder Diäten bewirbt, die eine schnelle und einfache Gewichtsabnahme versprechen. Zweck dieser Leitlinien zur Adipositas ist es daher, maßgebliche, verlässliche Informationen zu liefern, mit denen der Hausarzt seinen Patienten helfen kann", betonte Ryan.

Für die entsprechende deutsche Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas" formuliert deren Mitautor und Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Prof. Dr. Alfred Wirth, auf Nachfrage von Medscape Deutschland noch weitere Ziele: „Natürlich dienen auch in Deutschland die Leitlinien der Information und Handlungsorientierung für die Ärzte – neben den Hausärzten sind das natürlich auch Kardiologen, Internisten und Orthopäden, die auf Patienten mit Adipositas treffen. Aber hier dienen Leitlinien auch zur Entscheidungsfindung an Sozialgerichten und bei den Trägern der Krankenversicherung. Außerdem entwickeln wir auch immer eine Leitlinienfassung für Patienten, die diesen die wesentlichen Inhalte in verständlicher Form nahebringt.“

Die derzeit vorliegende deutsche Leitlinie stammt aus 2007. Eine aktuelle Überarbeitung soll Anfang 2014 veröffentlicht werden [2].

BMI-Grenzwerte für Behandlungsempfehlung gesunken

Die neuen amerikanischen Empfehlungen behalten den Body-Mass-Index (BMI) als ersten Screening-Schritt bei, mit dem festgestellt werden soll, welche Patienten hinsichtlich einer Gewichtsabnahme zu beraten sind. Die Leitlinien empfehlen weiterhin, den Taillenumfang als Risikoindikator für Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Gesamtsterblichkeit heranzuziehen. In den USA sind geschätzte 155 Millionen Erwachsene übergewichtig (bei einem BMI zwischen 25 und 29,9 kg/m²) oder adipös (bei einem BMI über 30 kg/m²). In den neuen Leitlinien wird Hausärzten empfohlen, den BMI bei jährlichen Untersuchungsterminen oder sogar noch häufiger zu ermitteln.

„Eine Änderung gegenüber den Leitlinien von 1998 findet sich im BMI-Grenzwert, ab dem eine Behandlung empfohlen wird“, so Ryan. Vor 15 Jahren wurde noch empfohlen, ab einem BMI von 30 kg/m² oder, sofern mindestens 2 Komorbiditäten bestehen, bereits ab einem BMI von 25 kg/m² zu behandeln. Nun gilt, dass bereits bei einem BMI von 25 kg/m² und nur einer Komorbidität zur Gewichtsabnahme geraten werden soll. Dabei zählt auch ein übergroßer Taillenumfang als Begleiterkrankung.

„Natürlich dienen auch in Deutschland die Leitlinien der Information und Handlungsorientierung für die Ärzte ... Aber hier dienen Leitlinien auch zur Entscheidungsfindung an Sozialgerichten und bei den Trägern der Krankenversicherung.“
Prof. Dr. Alfred Wirth

Als Grenzwert für den Taillenumfang gelten dabei bei Männern 101 cm und bei Frauen 88 cm oder mehr, wobei für manche ethnischen Gruppen wie beispielsweise Südasiaten niedrigere Werte gelten. Die Leitlinien verweisen den Anwender auf eine Fußnote, in der die entsprechenden Werte der Weltgesundheitsorganisation WHO angegeben sind.

Jedes Pfund weniger hilft

Laut Wirth entsprechen diese Empfehlungen in etwa denen der neuen deutschen Leitlinie. „Wir raten dazu, bei jedem Arztbesuch über das Körpergewicht zu sprechen, wenn dies angemessen erscheint, und überlassen es dem Arzt zu entscheiden, ob eine Bestimmung des BMI sinnvoll ist. Wichtig sind natürlich Komorbiditäten. Wenn ein Diabetes mellitus Typ 2 besteht oder Gelenke unter dem Gewicht leiden, ist eine Gewichtsreduktion bereits bei einem BMI ab 25 kg/m2 sinnvoll.“

Hat der Arzt einen betroffenen Patienten identifiziert, so muss er laut US-Leitlinie in dem Bewusstsein handeln, dass „selbst geringe Gewichtsabnahmen bereits klinisch bedeutsame Verbesserungen des Gesundheitszustands mit sich bringen können“, hob Ryan hervor. „Wenngleich die meisten Studien als Ziel eine Gewichtsabnahme von 5% bis 10% empfehlen, sind klinisch bedeutsame Gesundheitsverbesserungen bereits bei einer Gewichtsabnahme um 2% bis 5% zu beobachten“, so Ryan weiter.

Die deutsche Leitlinie werde generell bei einem BMI zwischen 25 und 35 kg/m² die Gewichtsreduktion um 5% oder mehr des Ausgangsgewichts empfehlen, und ab einem BMI von 35 kg/m² die Abnahme um 10% oder mehr, so Wirth.

Ausgangspunkt für die Gewichtsreduktion ist eine Veränderung der Lebensgewohnheiten. Die wirksamsten Ansätze dafür befassen sich mit der Ernährung, der körperlichen Aktivität, Beratungen zu Verhalten und Gewohnheiten, gegebenenfalls aber auch die Empfehlung einer bariatrischen Operation. Dazu muss der Arzt jedoch wissen, in welchen Fällen diese angezeigt ist.

„Wir sagen ganz klar, dass es keine ideale Ernährung für die Gewichtsabnahme gibt und dass keine der von uns untersuchten 17 Ernährungsumstellungen den anderen überlegen ist.“
Dr. Donna Ryan

Keine Empfehlung für bestimmte Kost

Hinsichtlich der Ernährung ergab sich aus den für die US-Leitlinie ausgewerteten Daten keine Empfehlung einer bestimmten Kostform, die anderen Ernährungsplänen überlegen wäre. „Wir sagen ganz klar, dass es keine ideale Ernährung für die Gewichtsabnahme gibt und dass keine der von uns untersuchten 17 Ernährungsumstellungen den anderen überlegen ist“, erläuterte Ryan. Es wird jedoch empfohlen, bei der Wahl des Ernährungsplans den Gesundheitszustand des Patienten und seine persönlichen Vorlieben zu berücksichtigen.

Ein Beispiel: „Bei Patienten mit Bluthochdruck wäre eine naheliegende Wahl beispielsweise eine kalorienreduzierte DASH-Diät, die wenig Kochsalz enthält.“ DASH steht dabei für Dietary Approach to Stop Hypertension, also eine Ernährungsmaßnahme zur Hypertoniebehandlung und -prävention.

Auch bei der deutschen Leitlinienerstellung seien die Experten, wie Wirth berichtet, nicht auf die eine Ernährungsform gestoßen, die immer zur Gewichtsabnahme führe. „Wichtig ist unter anderem, dass der Patient ein klares Konzept hat. Wenn er meint, der weitgehende Verzicht auf Kohlenhydrate stellt den besten Weg zur Gewichtsreduktion dar, dann soll er sich entsprechend ernähren. Wir sprechen uns zwar generell dafür aus, zu weniger Fett und Zucker in der Ernährung zu raten, aber wichtig ist vor allem, dass die neue Ernährungsform für den Patienten funktioniert und überzeugend ist.“

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Referenzen

  1. Jensen MD, et al: Obesity (online) 12. November 2013
    http://dx.doi.org/10.1002/oby.20660
  2. Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft
    http://www.adipositas-gesellschaft.de/index.php?id=9

Autoren und Interessenkonflikte

Lisa Nainggolan (Original: http://www.medscape.com/viewarticle/814202)
Es liegt keine Erklärung zu Interessenkonflikten vor.

Ulrike Walter-Lipow (Übersetzung)
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Ryan D: 2008 bis 2012 Beratungstätigkeit für Alere Wellbeing, Amylin, Arena Pharmaceuticals, Eisai, Novo Nordisk, Nutrisystem, Orexigen, Takeda und Vivus. 2013: Arena Pharmaceuticals, Eisai, Novo Nordisk, Takeda und Vivus.
Interessenkonflikte der Leitlinienautoren finden sich in der Leitlinie.

Wirth A: Mitglied im Data Monitoring Committee von Riemser.

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