Vitamin-D-Mangel: Nicht Ursache, sondern nur ein Symptom schlechter Gesundheit?

Andrea S. Klahre | 7. Januar 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Ein Vitamin-D-Mangel wird mit zahlreichen Erkrankungen, die nicht das Skelettsystem betreffen, in Zusammenhang gebracht: Karzinome oder Multiple Sklerose, Pneumonien, Adipositas und Diabetes, Herzkreislauf-, Immun- und Infektionskrankheiten, neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Mehrere Metaanalysen epidemiologischer Studien haben einen Zusammenhang hergestellt und daraus einen neuen Risikofaktor formuliert. Jedoch kommen die Autoren einer kürzlich im Lancet publizierten Metaanalyse zu einem ganz anderen Ergebnis: Nach ihrer Ansicht wird dabei Ursache und Wirkung verwechselt.

„Beim Auftreten von Krankheiten und im Krankheitsverlauf reduzieren entzündliche Prozesse die 25(OH)D-Serumspiegel. Das würde erklären, warum niedrige Level mit einem breiten Spektrum an Erkrankungen assoziiert werden.“
Prof. Philippe Autier

Die niedrigen Serumkonzentrationen von 25-Hydroxy-Vitamin D (25(OH)D) seien eher die Folge, nicht die Ursache dieser Erkrankungen. Die eigentliche Ursache sehen Prof. Dr. Philippe Autier, Direktor des International Prevention Research Institute (IPRI) in Lyon, und seine Forschergruppe in einer krankheitsbedingten Inflammation [1]. „Beim Auftreten von Krankheiten und im Krankheitsverlauf reduzieren entzündliche Prozesse die 25(OH)D-Serumspiegel. Das würde erklären, warum niedrige Level mit einem breiten Spektrum an Erkrankungen assoziiert werden“, schreiben sie.

Die Konsequenz für die Praxis: „Wir raten von einer pauschalen Supplementierung bei niedrigen 25(OH)D-Spiegeln ab, weil der Gesundheitszustand dadurch nicht verändert wird. Es wäre klüger, danach zu suchen, welche Entzündungen oder nicht diagnostizierten Herzkreislauferkrankungen den niedrigen Spiegeln zugrunde liegen und das zu beheben“, sagte Autier im Gespräch mit Medscape Medical News.

Deutliche Diskrepanzen zwischen Studiendesigns und Ergebnissen

„Die Metaanalyse fasst den Status quo der gegenwärtigen Diskussion treffend zusammen, bestätigt werden bekannte Befunde.“
Prof. Dr. Heike Bischoff-Ferrari

Die Wissenschaftler haben systematisch alle Meta- und gepoolten Analysen, randomisierten Studien und prospektiven Kohortenstudien ausgewertet, die bis Dezember 2012 mit insgesamt nahezu 1,2 Millionen Erwachsenen ab 18 Jahren durchgeführt worden sind – und deutliche Diskrepanzen der Ergebnisse je nach Studiendesign festgestellt.

In den meisten der 290 prospektiven Kohortenstudien wurde über moderate bis starke Assoziationen zwischen niedrigem 25(OH)D und kardiovaskulären Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Diabetes, Multipler Sklerose, Stimmungsschwankungen, kognitiven und körperlichen Leistungsverlusten sowie der Gesamtmortalität berichtet. Danach könnte ein Mangel (<20 ng/ml bzw. 50 nmol/l) des fettlöslichen Steroidhormons Vitamin D3 (Cholecalciferol, Colecalciferol oder Calciol) bzw. 25-Hydroxy-Vitamin D neben den bekannten Wirkungen auf den Kalzium- und Knochenstoffwechsel auch für zahlreiche nicht-skelettale Erkrankungen mitverantwortlich sein.

Dagegen zeigte die Auswertung von 172 randomisierten klinischen Studien einschließlich 34 Interventionsstudien mit 2.805 Patienten: Bei 25(OH)D-Spiegeln unter 20 ng/ml erbringt die Zufuhr von 50 µg bzw. 2.000 IE pro Tag keinen gesundheitsfördernden Effekt.

„Auf umfassendem UV-Schutz können Kinder und Erwachsene auch in Zukunft nicht verzichten.“
Prof. Matthieu Boniol

Ebenso wurde in einer Metaanalyse mit 16 Studien zum Thema Vitamin-D-Supplementierung und Diabetes der HbA1c-Wert nicht gesenkt. Auch dies sah in Beobachtungsstudien ganz anders aus. Ebenfalls zeigten sich im Zusammenhang mit verschiedenen Tumorentitäten keine protektiven Effekte – Ausnahme war das Kolorektalkarzinom. Doch wiederum ließ sich in 2 großen Interventionsstudien der Benefit auf den Darm nicht bestätigen.

Beflügelte Industrie

Prof. Dr. Heike Bischoff-Ferrari, Lehrstuhl Geriatrie und Altersforschung der Universität Zürich, schätzt die aktuelle Arbeit gegenüber Medscape Deutschland als das ein, was sie ist: „Sie fasst den Status quo der gegenwärtigen Diskussion treffend zusammen, bestätigt werden bekannte Befunde.“

Autiers Kollege am IPRI, Prof. Matthieu Boniol, hatte erste Daten dieser Analyse bereits auf dem 8th World Melanoma Congress Mitte August in Hamburg vorgestellt (Medscape Deutschland berichtete).

„Die Idee, dass ein Vitamin-D-Mangel im Zusammenhang mit nicht-skelettalen Erkrankungen stehen könnte, beflügelt nicht nur die Industrie, auch einige Forscher fordern nun, dass gesundheitspolitische Empfehlungen zugunsten einer UVB-induzierten Vitamin-D-Synthese geändert und das Aus für Solarien revidiert werden sollte“, sagte Boniol seinerzeit in Hamburg.

In einem ersten Fazit betonte er jedoch den nach wie vor erheblichen Forschungsbedarf, die allgemeinen Empfehlungen sollten daher nicht geändert werden: „Auf umfassendem UV-Schutz können Kinder und Erwachsene auch in Zukunft nicht verzichten.“

„Wir raten von einer pauschalen Supplementierung bei niedrigen 25(OH)D-Spiegeln ab, weil der Gesundheitszustand dadurch nicht verändert wird.“
Prof. Philippe Autier

In der aktuellen Analyse unterstreichen die Autoren ebenfalls die Interessen der Hersteller und Vertriebsfirmen von Vitamin-D-Präparaten und Solarien. Zur Prävention nicht-skelettaler Erkrankungen gebe es allerdings noch immer keine Evidenz. Zur pleiotropen Wirksamkeit des Vitamin D3 lägen noch immer nicht genügend valide Daten vor.

Leicht herabgesetzte Gesamtmortalität

Auch wenn Autier und Kollegen von einer pauschalen Supplementierung bei niedrigen 25(OH)D-Spiegeln abraten, scheint zumindest eine Gruppe von einer Vitamin-D3-Substitution zu profitieren: Über 50-Jährige – meist Frauen – zeigen unter 20 µg bzw. 800 IE Vitamin D pro Tag eine leicht herabgesetzte Gesamtmortalität. Eine Erklärung könnte für die Forscher sein, dass hier ein defizitärer Lebensstil mit Bewegungs-, Nährstoffmangel und fehlender Sonnenexposition im Alter bis zu einem gewissen Grad durch die Kombination von Vitamin-D-Gaben und gezielten Trainingsprogrammen ausgeglichen wird.

Ob sich nicht doch mit Vitamin-D-Gaben das Risiko für funktionalen und kognitiven Abbau, Krebs- und Herzkreislauferkrankungen, Diabetes und Infektionen beeinflussen lässt, untersuchen derzeit 5 Studien, in denen 2.150 bis 20.000 über 50-jährigen Teilnehmer u. a. zwischen 40 und 80 µg/Tag Vitamin D3 erhalten. „Erste Ergebnisse werden nicht vor 2017 erwartet, aber diese Studien haben das Potenzial, unsere Hypothesen zu überprüfen", so die Autoren.

Macht´s der Mix?

„Ziel ist es, mit einfachen Maßnahmen die gesunde Lebenserwartung im Alter zu verlängern.“
Prof. Dr. Heike Bischoff-Ferrari

Für Bischoff-Ferrari, Expertin für Prävention chronischer Erkrankungen im Alter, ist der Alters-Aspekt der Analyse von besonderer Relevanz. Sie selbst leitet eine der erwähnten Studien, die seit Anfang 2013 laufende internationale multizentrische DO-HEALTH. Diese prüft gleich 3 Strategien bei älteren Menschen, die sich in früheren Untersuchungen und großen Kohortenstudien als erfolgversprechend erwiesen haben [2]: Bei insgesamt 2.152 zuhause lebenden Männern und Frauen über 70 Jahre (1.076 mit, 1.076 ohne Sturz in den letzten 12 Monaten) wird untersucht, ob Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren und ein Bewegungsprogramm für Zuhause chronische Erkrankungen verhindern und sowohl Stürze als auch Knochenbrüche signifikant verringern können.

„Wir hoffen, die zuverlässige Evidenz liefern zu können, dass die Strategien allein oder kombiniert die Anzahl an Frakturen, den funktionellen und kognitiven Abbau, das Risiko von Bluthochdruck sowie das Risiko für Infektionen in der älteren Bevölkerung reduzieren können“, so Bischoff-Ferrari. „Ziel ist es, mit einfachen Maßnahmen die gesunde Lebenserwartung im Alter zu verlängern.“

Referenzen

Referenzen

  1. Autier P, et al: The Lancet Diabetes & Endocrinology. 2014; 2(1): 76-89
    http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(13)70165-7
  2. DO-HEALTH:
    http://do-health.eu/wordpress

Autoren und Interessenkonflikte

Andrea S. Klahre
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Bischoff-Ferrari H: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

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