Kinder waren früher fitter als heute – das ist wohl nicht nur ein Eindruck, sondern lässt sich auch belegen. So ergab der Vergleich der Ruhe-Pulsfrequenzen von 9- bis 11-Jährigen in England über einen Zeitraum von 30 Jahren, dass er im Durchschnitt um bis zu 2 Schläge pro Minute gestiegen ist. Das deute auf einen verschlechterten Fitnesszustand der Kinder und ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter hin, schlussfolgern die Forscher um Dr. Leah Li vom Institut für Kindergesundheit am University College London [1]. Insbesondere bei Jungen sei dieser deutliche Anstieg der Pulsfrequenzen bedenklich.
„Wenn ein Anstieg des Ruhepulses um 2 Schläge pro Minute bei Jungen bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt, könnte daraus ein Anstieg der Mortalität aufgrund koronarer Herzkrankheit um 4% bei den Männern resultieren. Zudem würde das Diabetes-Risiko bei über 65-Jährigen um 2% steigen“, rechnen sie hoch. Obwohl die Pulsschlagzahl insgesamt nur moderat gestiegen sei, sollte diese Tendenz weiter beobachtet werden, insbesondere bei Jungen, fordern Li und Kollegen.
Prof. Dr. Christine Graf vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der Deutschen Sporthochschule Köln weist darauf hin, „dass die Spanne der Herzfrequenz in dieser Altersgruppe enorm hoch ist“. Ob der in der Studie beobachtete Anstieg des Pulses daher so negativ zu bewerten ist, wie die Autoren das vorrechnen, lässt sich ihrer Ansicht nach noch nicht sicher sagen und: „Dass es einen Zusammenhang mit Bewegungsmangel gibt, mag sein, kann aber auf dieser Ebene nur spekuliert werden.“
„Ein Anstieg der Pulsfrequenz von 2 Schlägen pro Minute ist relativ gering“, wertet Prof. Dr. Hans-Georg Predel, Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Deutschen Sporthochschule Köln, im Gespräch mit Medscape Deutschland dieses Ergebnis. „Daher sind die Interpretationen der Studie mit Vorsicht zu genießen.“ Dennoch: Sie passen gut ins Gesamtbild der aktuellen Forschung zu dem Thema, fügt der Arzt für Innere Medizin und Sportmedizin an.
wir eine Abnahme
der Kraft, der Koordination, aber auch der Ausdauer-
leistungsfähigkeit.“
Fitness senkt den Ruhepuls
Ihre Ergebnisse basieren auf Messungen der Ruhepulsfrequenz von fast 23.000 Kindern im UK über einen Zeitraum von 30 Jahren die im Rahmen von 5 Kohortenstudien erhoben wurden: The 1970 British Birth Cohort, The Brompton cohort, The Two Towns Study, The Ten Touns Study und der jährlichen Erhebung von Gesundheitsdaten für England (1995-98, 2002, 2006-2008).
Der Ruhepuls indiziert die Belastung des kardiopulmonalen Systems in entspanntem Zustand und deutet daher unter anderem auf den Fitnesszustand und die kardiovaskuläre Gesundheit hin. Bei Sportlern ist dieser Wert erkennbar niedriger als bei Untrainierten. Bei Kindern ist ein erhöhter Ruhepuls zudem häufig mit Bluthochdruck und Adipositas assoziiert. „Entwicklungstendenzen der Ruhepulsfrequenz können wichtige Erkenntnisse zu Veränderungen des Fitnesszustands von Kindern liefern“, halten Leah Li und ihre Kollegen daher fest. Ihre Erkenntnisse: Jährlich ist die Pulsfrequenz bei Jungen um schätzungsweise 0,07 Schläge pro Minute gestiegen, bei Mädchen waren es 0,04.
CHILT-Projekt: Fit statt fett
Graf ist seit 2001 an dem langfristigen CHILT Projekt (Children’s Health InterventionaL Trial) beteiligt. Es dient dazu, kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen durch einen gesundheitsfördernden Lebensstil in Schule und Familie abbauen zu helfen [2]. „Wir untersuchen die Fitness der Kinder im Kontext Gesundheit. Dabei zeigt sich zumeist, dass fittere Kinder auch weniger kardiovaskuläre Risikofaktoren haben“, erklärt Graf auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Außerdem sehen wir eine Abnahme der Kraft, der Koordination, aber auch der Ausdauerleistungsfähigkeit.“
Eine Meta-Analyse von 50 Studien aus 28 Ländern, die mehr als 25 Millionen Kinder zwischen 9 und 17 Jahren untersuchte, ergab eine Abnahme der kardiovaskulären Fitness der Kinder seit 1975 pro Jahrzehnt um etwa 5%. Die Ergebnisse der Großstudie wurden im November auf dem Kongress der American Heart Association (AHA) in Dallas, USA, präsentiert. In 30 bis 60% der Fälle könne man diesen Trend mit einer Zunahme des Körperfetts erklären, sagte Dr. Grant Tomkinson, Gesundheitswissenschaftler an der Universität von Südaustralien in Adelaide, der im Forschungsteam dieser Studie war.
Die jetzt aktuell erhobenen Daten ergänzen diesen Befund: Auch die britischen Kinder haben immer häufiger mit Übergewicht und Adipositas zu kämpfen. In der Meta-Analyse waren 1980 5,7% der Jungen und 9,7% der Mädchen übergewichtig. 2002 waren es bereits 21,9% bzw. 30,4%. Ebenso nahm der Body-Mass-Index (BMI) der Kinder zu, von 16,9 kg/m2 (Jungen) und 17,1 kg/m2 (Mädchen) im Jahr 1980 bis hin zu 18,8 kg/m2 und 19,2 kg/m2 in 2002. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass sich Kinder heute in vielen Ländern immer weniger bewegen.
Bewegungsmangel bei den Jungen, mehr Sport bei den Mädchen?
mit hohem Bildungsgrad achten auf ausreichend Bewegung.“
So haben Li und ihr Team festgestellt, dass sich 2007 nur noch 59% der Jungen mehr als eine Stunde pro Tag sportlich bewegen. 1997 waren es noch 66,7%. Allerdings: Mädchen bewegten sich 2007 mehr als 10 Jahre zuvor. „Der deutliche Rückgang bei Jungen würde übereinstimmen mit dem größeren Anstieg der Ruhepulsfrequenz, den wir beobachtet haben“, schreiben die Autoren.
Die Lebenswelten der Kinder haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, erklärt Predel. „Durch die massive Verbreitung von Smartphones und Computerspielen, gepaart mit einem Verlust von Spielflächen, hat sich das Problem des Bewegungsmangels drastisch verschärft“, warnt er.
Zudem drifte die Gesellschaft immer weiter auseinander: „20 Prozent der Kinder werden extrem gefördert. Besonders Eltern mit hohem Bildungsgrad achten auf ausreichend Bewegung. Die restlichen 80 Prozent fallen massiv ab. Um diese Kinder müssen wir uns kümmern“, fordert Predel.
Seit 2003 fördert das Projekt „Fit am Ball“ der Deutschen Sporthochschule Köln den Schulsport in Deutschland – sowohl finanziell, als auch mit Materialien, Sportgeräten und inhaltlich-didaktischen Unterrichtskonzepten. Rund 2000 Schulen und Freizeiteinrichtungen nahmen bisher teil, mit mehr als 800.000 Kindern [3].