Hirnstimulation und Handbuch-gestützte Verfahren: Was leisten neue Therapien bei Anorexie?

Heike Dierbach | 5. Dezember 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Berlin – Psychotherapie ist die wirksamste Behandlungsform für Anorexie – das hat unlängst eine Multicenter-Studie erneut gezeigt (Medscape Deutschland berichtete). Allerdings hat sich bislang keine Therapie als führend auch bei schweren Fällen erwiesen. „Der Stein der Weisen ist noch nicht gefunden“, sagte Prof. Dr. Ulrike Schmidt vom King's College in London.

Neue Ansätze sind nach wie vor notwendig. Einige stellte Schmidt auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) vor. In der Lecture „Neue Entwicklungen in der Prävention und Behandlung von Essstörungen“ ging es auch um die Frage, wie sich Anorexie, zum Beispiel durch Schulprogramme, verhindern lässt [1].

Magersucht ist die gefährlichste und am schwersten zu behandelnde Essstörung. „Das liegt vor allem daran, dass die Patientinnen der Therapie meist ambivalent gegenüberstehen“, sagte Schmidt. Zwar ist die Behandlung in der Klinik oft erfolgreich und die überwiegend weiblichen Patienten nehmen an Gewicht zu. „Doch nach der Entlassung haben sehr viele einen Rückfall“.

Ein zusätzliches Handbuch beugt Rückfällen vor

Schmidt hat daher mit ihren Kollegen eine Therapie entwickelt, die den Patientinnen ein Manual mit nach Hause gibt: Das Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment for Adults (MANTRA). MANTRA setzt an 4 Faktoren an, die die Krankheit beeinflussen: Denken, Beziehungen, Familie und die Einstellung zur Anorexie. „Der Denkstil der Patientinnen ist oft rigide“, so Schmidt, „sie fokussieren sehr auf Details und weniger auf Zusammenhänge“. Beziehungen sind oft von Ängstlichkeit geprägt.

„Nur durch das Hungern fühlen
die Patientinnen sich stark und sicher. Für manche wird es zum Bestandteil ihrer Identität.“
Prof. Dr. Ulrike Schmidt

Die Familienangehörigen möchten der Patientin zwar helfen, verschlechtern aber mit ihrer Überfürsorge mitunter die Lage eher. Die Einstellung der Patientin zur Anorexie schließlich erschwert die Heilung, denn die Krankheit wird als etwas Positives gesehen, erklärte Schmidt: „Nur durch das Hungern fühlen die Patientinnen sich stark und sicher. Für manche wird es zum Bestandteil ihrer Identität.“ Diese Dynamik hofft Schmidt zu durchbrechen, indem sie an diesen 4 Faktoren gleichzeitig ansetzt.

In einer Pilotstudie wurde MANTRA an 72 Patientinnen getestet, die einen Body-Mass-Index (BMI) von 18,5 kg/m² oder geringer hatten [2]. Die Betroffenen wurden über 20 bis 30 Stunden behandelt, je nach Schweregrad der Anorexie. Als Referenztherapie diente das etablierte Specialist Supportive Clinical Management (SSCM). Das SSCM ist eher praktisch orientiert, die Patientinnen sollen vor allem wieder lernen, normal zu essen.

Die Ergebnisse ergaben für die Gesamtgruppe keine Unterschiede: Sowohl mit MANTRA als auch mit SSCM nahmen die Patientinnen gut zu. Bei Betroffenen mit einem BMI unter 17,5 kg/m² zeigte sich aber eine leichte Überlegenheit von MANTRA in der Langzeitwirkung: Zum Follow-up-Zeitpunkt (nach 12 Monaten, etwa 6 Monate nach Therapieende) hatte die Versuchsgruppe durchschnittlich einen BMI deutlich über 17,5 kg/m², der BMI der Kontrollgruppe lag unter 17 kg/m². „Das Ergebnis ist nicht ganz signifikant“, räumte Schmidt ein, „das liegt aber vor allem an der geringen Fallzahl“.

Qualitatives Feedback der Probandinnen zeigt, dass diese das Manual als hilfreich empfanden: „Es war wie für mich gemacht“, berichtete eine Patientin. Eine andere schrieb: „Wenn es kritisch wurde, habe ich nachgesehen, was das Handbuch sagt.“ Derzeit läuft eine Folgestudie mit 140 Probandinnen, die aber zusätzlich verblindet ist.

Neue Ansätze auf neuronaler Ebene

Auch die Cognitive Remediation Therapy (CRT) setzt an den typischen Denkmustern an, allerdings auf neuronaler Ebene. Hintergrund ist die Annahme, dass bei Anorexie neuronale Regelkreise gestört sind und es zu einem Ungleichgewicht zwischen kognitiven und limbischen Reaktionen kommt. „Mit speziellen Übungen sollen die Patientinnen lernen, flexibler zu denken und größere Zusammenhänge zu erkennen“, erläuterte Schmidt.

Dazu müssen sie mehrfach zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln und sich dabei an unterschiedliche Regeln anpassen. In 3 Pilotstudien konnte gezeigt werden, dass dadurch ihre Flexibilität steigt, aber zunächst nur bei Testaufgaben. „Es ist noch völlig offen, ob sich das generalisieren und auf die Symptome der Essstörung übertragen lässt“, sagte Schmidt.

Direkter wirken soll die repetitive Transkranielle Magnetische Stimulation des Gehirns (rTMS). Dabei wird den Patientinnen eine kronenartige Apparatur auf den Kopf gesetzt. Diese erzeugt ein magnetisches Feld, das 4 Zentimeter tief ins Gehirn wirkt. „Ziel ist, den Drang zu Essensreduktion zu verringern“, erklärte Schmidt. Auch das Gefühl, dick zu sein, soll beeinflusst werden.

„… gerade für
schwer kranke Patientinnen könnte die magnetische Stimulation eine zusätzliche Option sein.“
Prof. Dr. Ulrike Schmidt

Bisher wurden aber nur Einzelfälle untersucht. Diese zeigen ein positives Potenzial der rTMS – teilweise bereits nach einer Sitzung. „Es bleibt noch viel abzuklären“, so Schmidt, „aber gerade für schwer kranke Patientinnen könnte die magnetische Stimulation eine zusätzliche Option sein.“

Auch für die elektrische Tiefenhirnstimulation gibt es erste positive Berichte, aber noch keine Evidenz. „Hier muss man aufpassen, dass man nicht zu große Erwartungen weckt“, warnte Prof. Dr. Martina de Zwaan von der Medizinischen Hochschule Hannover, „nach den ersten Berichten haben bei uns sehr viele Patientinnen angerufen, die das gleich machen wollten.“ Klar müsse sein, dass derlei Maßnahmen immer nur eine Ergänzung zu psychotherapeutischen Ansätzen sein könnten.

Können Schulprogramme Erkrankungen verhindern?

Weil die Behandlung der Anorexie so schwer ist, kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu. „Hier könnten die Schulen ein wichtige Rolle spielen“, meinte Schmidt. Viele Lehrer wüssten aber nicht, wie sie das Thema ansprechen sollen. „Das ist nach wie vor ein großes Tabu.“

Das King's College hat daher ein entsprechendes Training entwickelt. An einem Tag erfahren die Lehrkräfte, wie Essstörungen entstehen, wie sie das Thema am besten mit Schülern und Eltern behandeln und wie sie eine Schülerin nach dem Aufenthalt in der Klinik unterstützen können. Eine Evaluation zeigt, dass sie dadurch ihre Einstellung zu Essstörungen positiv verändern und sich kompetenter fühlen.

Noch konkreter wird ein Peer-Programm, das Schmidt und Kollegen für 12- bis 14-Jährige entworfen haben. In 6 Unterrichtsstunden soll vor allem die Wertschätzung des eigenen Körpers verbessert werden. Nach ersten Studien an Mädchenschulen gelingt das auch. Ein ähnliches Programm hat das Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie der Universität Jena entwickelt: Primärprävention Magersucht (PriMa) für Mädchen der 6. Klasse [3].

Eine Teilnahme hängt aber immer von Engagement der Lehrer ab. „Man darf nicht vergessen, dass sie noch viele andere Präventionsthemen behandeln müssen wie etwa Alkohol oder Drogen“, gab Schmidt zu bedenken. Sie forscht daher auch an Programmen, die verschiedene Süchte integrieren.

Referenzen

Referenzen

  1. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), 27. bis 30. November 2013, Berlin
    Christina-Barz-Lecture „Neue Entwicklungen in der Prävention und Behandlung von Essstörungen“ (29.11.2013)
    Schmidt U: Neue Entwicklungen in der Prävention und Behandlung von Essstörungen
    http://www1.dgppn-kongress.de/guest/ID7059ba4f2c0fcd/ID7059ba4f2c0fcd/AbstractView?ABSID=18936
  2. Schmidt U, et al: Trials 2013, 14:160
    http://dx.doi.org/10.1186/1745-6215-14-160
  3. Programm PriMa
    http://www.mpsy.uniklinikum-jena.de/Forschung/BMBF_+Essstörungen/PriMa+_+Co_.html

Autoren und Interessenkonflikte

Heike Dierbach
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Schmidt U, de Zwaan M: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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