Im finalen Stadium einer Krebserkrankung treffen Onkologen häufig die Entscheidung, nur noch palliativ zu behandeln. Doch sehr oft beziehen sie ihre Patienten in diese Entscheidung nicht ein. Das ergaben sowohl eine Münchner Pilotstudie als auch eine europäische Untersuchung [1,2].

Eine große Interventionsstudie, die letztes Jahr an der Medizinischen Klinik III der Universität München angelaufen ist und von der Krebshilfe gefördert wird, soll diesem Missstand abhelfen. Wichtigstes Ziel des Vorhabens ist die Entwicklung einer Leitlinie, die Unsicherheiten beseitigt und Ärzten bei den Entscheidungen zur Therapiebegrenzung einen roten Faden an die Hand gibt.
Dr. Dr. Eva C. Winkler, die mit Dr. Pia Heußner das Projekt gemeinsam leitet, ist Fachärztin an der Medizinischen Onkologie des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen in Heidelberg. Sie verantwortet dort den Forschungsschwerpunkt „Ethik und Patientenorientierung in der Onkologie“. Medscape Deutschland hat die Medizinethikerin befragt, wie Ärzte im Endstadium einer Krebserkrankung entscheiden und wie sie mit ihren Patienten kommunizieren.
Medscape Deutschland: Wenn es um todkranke Menschen geht, ist in der öffentlichen Diskussion vor allem von Übertherapie die Rede. Die Flut von Patientenverfügungen spiegelt die Angst wider, bis zuletzt ein Objekt in den Händen der Ärzte zu sein und nicht in Ruhe sterben zu dürfen. Haben Krebspatienten Grund zu solchen Befürchtungen?
Dr. Winkler: Diese Sorge war bis Mitte der 1990er Jahre sicher berechtigt. Dann hat die große Studie „Support“ zur Versorgungswirklichkeit schwerkranker Patienten in den USA alle aufgerüttelt [3]. Dabei kam heraus, dass zwei Drittel der Sterbenden, die eine palliative Therapie vorgezogen hätten, noch kurz vor ihrem Tod mit ungewollten Interventionen behandelt worden waren.
Medscape Deutschland: Was hat sich seither geändert?
Dr. Winkler: Diese Studie zog eine Unzahl von Untersuchungen nach sich und hatte schließlich einen Paradigmenwechsel zur Folge: weg von der Apparatemedizin am Lebensende, hin zu palliativer Versorgung. Nach neueren Daten wird in Europa etwa bei der Hälfte der erwarteten Todesfälle eine Entscheidung gegen eine intensive Therapie getroffen. Doch nur die Hälfte der Patienten wird in diese Entscheidung mit einbezogen. Interessanterweise gibt es dabei ein starkes Nord-Süd-Gefälle. In mediterranen Ländern gehen Ärzte wesentlich paternalistischer mit ihren Patienten um als beispielsweise in Skandinavien.
Medscape Deutschland: In Ihrer Studie untersuchen Sie u. a. das Entscheidungsverhalten der Ärzte zur Therapiebegrenzung. Was genau verstehen Sie darunter?
Dr. Winkler: Unter dem Begriff Therapiebegrenzung haben wir alles zusammengefasst, worauf verzichtet wurde: keine Chemotherapie, keine Verlegung auf die Intensivstation, keine Antibiotika, keine parenterale Ernährung, kein Sauerstoff, keine zusätzliche Bildgebung, keine zusätzliche Intervention, keine Reanimation. Dafür aber effektive Symptomkontrolle.
möglichkeiten von vielen Patienten.“
Medscape Deutschland: Welche Wünsche äußerten die Patienten, wenn es um die Entscheidung Lebenszeit versus Lebensqualität geht?
Dr. Winkler: Ähnlich wie in internationalen Arbeiten lassen sich auch in unserer Studie die Wünsche der Patienten in etwa dritteln: Ein Drittel wünschte sich eine Begrenzung von therapeutischen Maßnahmen zugunsten einer verbesserten Lebensqualität. Ein Drittel wünschte sich dezidiert den Gewinn von Lebenszeit, auch um den Preis von starken Therapiebelastungen. Ein Drittel war unentschlossen und konnte diese Entscheidung zunächst nicht treffen. Später neigten diese Patienten zur Symptomkontrolle und palliativen Behandlung.
Medscape Deutschland: Berücksichtigen Ihren Beobachtungen zufolge die Ärzte die Wünsche der Patienten?
Dr. Winkler: Das hängt davon ab, ob sie mit den Patienten einer Meinung sind. Patienten, die mit der palliativen Behandlung übereinstimmten, wurden zu drei Viertel in die Entscheidung mit einbezogen; Schwerkranke, die selbst im progredienten Tumorstadium noch Lebenszeit durch eine Maximaltherapie gewinnen wollten, nur zu gut einem Drittel. Mit dem Rest wurde einfach nicht darüber gesprochen. Dieses Kommunikationsverhalten der Ärzte ist wirklich suboptimal und muss dringend verbessert werden.
Medscape Deutschland: Gehen Ärzte damit Konfliktsituationen aus dem Weg?
Dr. Winkler: Nach dem Paradigmenwechsel sind es zumeist die Ärzte, die die Therapie begrenzen wollen. Bei den Kranken ist das schwieriger. Ich habe das Gefühl, heute überholt die Krankheitsdynamik die Verarbeitungsmöglichkeiten von vielen Patienten. Diejenigen, die bis zuletzt Maximaltherapie wollen, sind einfach noch nicht so weit, um ihre Prognose richtig einschätzen zu können.
Medscape Deutschland: Weil ihnen die Medizin immer Allmacht vorgegaukelt hat?
Dr. Winkler: Viele Krebskranke haben einfach falsche Vorstellungen über die Möglichkeiten der Medizin. Man sollte nicht so tun, als wäre Krebs eine chronische Erkrankung, bei der man wie beim Diabetes eine normale Lebenserwartung erreichen kann. Unsere Aufgabe als Ärzte ist es, dies so früh wie möglich anzusprechen, damit die Patienten das in ihrem Zeithorizont verarbeiten können.
Medscape Deutschland: Wie lange vor dem Tod wird die Entscheidung getroffen, palliativ statt intensiv zu behandeln?
Dr. Winkler: In unserer aktuellen Beobachtungsstudie fiel diese Entscheidung bei Patienten auf der Normalstation 6 Tage vor dem Tod. Auf der Palliativstation waren es im Schnitt 10,5 Tage. 72 Stunden vor ihrem Tod erhielten immerhin noch zwei Prozent der Sterbenden eine Chemotherapie.
Medscape Deutschland: Ist das nicht viel zu spät? Bei Krebskranken ist das Ende doch meist schon viel früher abzusehen?
Dr. Winkler: Ein Surrogatmarker für die Aggressivität einer Behandlung ist das Herantherapieren bis zu 14 Tage an den Tod. Eine Studie bei metastasierten Lungenkrebspatienten am General Hospital in Boston hat gezeigt, dass jene Patienten, mit denen alle sechs Wochen über ihre Krankheit gesprochen wurde, eine wesentlich realistischere Einschätzung ihrer Situation hatten und weit weniger aggressiv behandelt wurden als die Kontrollgruppe [4]. Das heißt, dass der Patientenwunsch nach viel Therapie auch viel Therapie triggert.
Medscape Deutschland: Das Recht, unerwünschte Behandlungen abzulehnen, ist im neuen Patientenrechtegesetz festgehalten. Was aber, wenn Patienten bis zuletzt Maximaltherapie wollen?
Dr. Winkler: Zunächst müssen wir wissen, warum sie das wollen. Es gibt Patienten, die sind einfach nicht gut genug aufgeklärt über ihre Situation, andere verdrängen die Realität oder werden von ihren Angehörigen zur Weiterführung der Behandlung gedrängt. Dann gibt es da noch die sehr gut informierten Patienten, die speziell in die großen Zentren mit führenden Spezialisten kommen. Sie hoffen, hier mit neuen Therapien das Ruder doch noch herumreißen zu können. Es gibt sicher Ärzte, die nicht aufhören können. Aber mein Eindruck ist, dass in der Onkologie immer mehr die umgekehrte Situation auftritt.
wir jetzt nicht …
den Patienten vorschreiben wollen, wie ein guter Tod ohne Apparate-
medizin auszusehen hat.“
Medscape Deutschland: Zu den typischen Coping-Mechanismen von Sterbenden gehört die Abwehr und Verleugnung der Realität. Was können Ärzte tun, wenn der Patient trotz aller Bemühungen, ihn umzustimmen, Therapien wünscht, die ihm mehr schaden als nutzen?
Dr. Winkler: Wenn der Patient eine Therapie wünscht, deren Schadenspotenzial klar den therapeutischen Nutzen überwiegt, sollte die Fürsorgepflicht des Arztes Priorität haben. Aber schwerkranke Patienten sind im Vergleich zu gesunden Menschen viel eher bereit, intensive Therapien auch mit geringer Erfolgsaussicht auf sich zu nehmen. Und sie sollten selbst bestimmen können, welche Risiken und Belastungen für sie noch akzeptabel sind.
Früher haben wir die Leute auf die Intensivstation gebracht, ohne sie zu fragen. Wir müssen aufpassen, dass wir jetzt nicht genauso paternalistisch werden und den Patienten vorschreiben wollen, wie ein guter Tod ohne Apparatemedizin auszusehen hat. Wenn sich beide Seiten auf eine realistische Einschätzung der Situation verständigen, dann können die besten Entscheidungen getroffen werden. Dann entgeht man auch der Gefahr der Übertherapie und kann die Endstrecke für den Patienten optimal orchestrieren.
Medscape Deutschland: Besten Dank für das Gespräch.