Bei der Behandlung von Depressionen sind regelmäßiges Ausdauertraining im aeroben Bereich wie Laufen, Gymnastik oder Yoga in Verbindung mit Entspannungsverfahren feste Bestandteile des klinischen Alltags. Ein kürzlich in The Cochrane Library veröffentlichtes Update eines Review von 2009 zum Nutzen von Sport und Bewegung bei Depression gelangt jedoch zu einer eher zurückhaltenden Bewertung [1].
„Es spricht einiges dafür, dass Bewegung eine depressive Symptomatik eher reduziert als keine Bewegung. Die Analysen methodisch robuster Studien zeigen aber nur einen geringen Vorteil”, schreiben die Autoren um Dr. Gary M. Cooney, Abteilung für Psychiatrie am Royal Edinburgh Hospital. Und: Im Vergleich zu Pharmako- und Psychotherapien zeigen Sport- und Bewegungsprogramme keinen signifikanten Effekt.
„Es gibt einige sehr gute, methodisch perfekte Einzelstudien, die überzeugende Befunde im Sinne einer Stimmungsaufhellung und -stabilisierung gezeigt haben“, gibt dagegen Prof. Dr. Andreas Broocks, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Helios Kliniken Schwerin, gegenüber Medscape Deutschland zu bedenken.
Zudem lässt sich die Wirkung im Gehirn nachweisen: Bewegung erhöht signifikant die Expression von neurobiologischen und neurotrophen Faktoren in Gehirn und Rückenmark – z.B. Serotonin (5-HT), Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF), Insulin like Growth Factor (IGF-1), Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) – und beeinflusst somit erheblich die Neuroplastizität.
Review mit wenigen kleinen Studien minderer Qualität
Cooney und Kollegen haben 39 Studien mit insgesamt 2.326 Teilnehmern ausgewertet, die bis März 2013 publiziert worden waren. Bei 35 Studien (n=1.356), die Bewegung mit keiner Behandlung oder einer Kontrollintervention verglichen hatten – darunter waren 8 Langzeit-Follow-ups (n=377), zeigten die Ergebnisse einen moderaten klinischen Effekt zugunsten der Bewegung. Zu einer deutlichen Stimmungsveränderung kam es nicht, folglich auch nicht zu einer Veränderung der Lebensqualität. Allerdings hatten nur 3 Studien einen entsprechenden Bezug überhaupt untersucht.
studien, die überzeugende Befunde im Sinne einer Stimmungs-
aufhellung und -stabilisierung
gezeigt haben.“
Außerdem gab es nur wenige Arbeiten, die verschiedene Bewegungsprogramme verglichen. Deshalb können die Autoren nicht sagen, ob es Unterschiede in Abhängigkeit von der Art, Intensität und Häufigkeit der körperlichen Aktivität gibt. In 7 Arbeiten (n=189) waren Bewegungsprogramme mit Psychotherapien, in 4 Arbeiten (n=300) mit der Einnahme von Antidepressiva verglichen worden. Die jeweils gepoolten standardisierten mittleren Differenzen (SMD) waren nicht signifikant. In einem einzigen Vergleich mit der Lichttherapie (n=18) war Bewegung im Vorteil (SMD: -6,40; 95%-KI: -10,20 bis -2,60).
Von allen 39 Studien hielten indes nur 6 einer rigorosen Prüfung gemäß des „Risk of bias“-Tools der Cochrane Collaboration durch 2 unabhängige Experten stand. In den übrigen Studien war die Möglichkeit einer Verzerrung der Ergebnisse durch andere Einflussfaktoren so groß, dass ihre Daten nicht in die Analyse einbezogen wurden.
„Schlüpfrige Datenbasis“
Dieser rigorose Ausschluss ist zugleich ein Schwachpunkt der Studie. Prof. Dr. Wolfgang Maier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), stört denn auch die Qualität der Datenbasis und damit des Reviews: „Von 39 Studien haben nur sechs den hohen Minimalkriterien genügt. Das bedeutet, dass nur rund ein Sechstel der Daten Bestandteil der Auswertung ist und fünf Sechstel weggeworfen wurden. Eine solche Datenbasis ist schlüpfrig und für ein Cochrane-Review ungewöhnlich“, sagt er im Gespräch mit Medscape Deutschland
Maier nennt die hier analysierten Arbeiten „On-Top-Versuche“ – Bewegung war eine zusätzliche Option zu Pharmako- und Psychotherapien. „Die geringe Wirksamkeit kann man deshalb auch damit begründen, dass Sport in diesem Kontext keine weiteren Effekte haben kann.“
Folglich verwundert es nicht, dass Antworten auf grundsätzliche Fragen wie diese nicht gegeben werden: In welchem Ausmaß beeinflussen Sport und Bewegung leichte und mittlere Depressionen? Ist Sport und Bewegung in Gruppen oder allein besser? Wann kann was helfen und wann vielleicht nicht?
Bewegungsstudien bei Depression grundsätzlich schwierig
kriterien genügt. Eine solche Datenbasis ist schlüpfrig und für ein Cochrane-Review ungewöhnlich.“
„Wenn eine Cochrane-Analyse zu dem Ergebnis kommt, dass körperliche Aktivität gleichwertig zum Goldstandard Pharmakotherapie und zur Psychotherapie ist – in dem Sinne, dass beide Ansätze keine besseren Effekte zeigen als Sport – dann braucht man nicht enttäuscht zu sein, dann ist das sehr viel“, interpretiert Broocks die Cochrane-Analysten. Die Ergebnisse von qualitativ schlechteren Studien würden die von qualitativ höherwertigen Studien stets nivellieren.
Broocks erklärt, warum Bewegungsstudien bei Depression grundsätzlich schwierig zu realisieren sind: „Sie sind sehr aufwändig, funktionieren nur mit Drittmitteln und alle Akteure müssen sich viel Mühe geben. Die größte Hürde ist die Motivation der Patienten. Sie müssen gecoacht und engmaschig begleitet werden, um überhaupt die Voraussetzung zu erfüllen – das Erreichen der gewünschten Trainingsintensität.“
Das bedeutet initial 3 Monate Training, jeden Tag bei Wind und Wetter. Diese Herausforderung ist groß und viele scheitern. Deshalb gelingt das vor allem im Bereich der leichten Depression, in schweren Stadien funktioniert Bewegung ohnehin gar nicht. Die Patienten sind in ihrer Bewegungsfähigkeit stark gehemmt, sie müssen stationär medikamentös entlastet werden. „Selbst wenn sie sich bewegen wollen – sie können es nicht“, so Broocks. „Ihre Beine gehorchen ihnen nicht.“
„Sport ist eine unspezifische Therapie“
„Man kann aber auch fragen, warum Sport bei Depression überhaupt hilfreich sein sollte“, provoziert Maier und sagt zu den neuroplastischen Effekten im Zusammenhang mit Bewegung, dass sich die auch beim Musikmachen und Lesen einstellen. Der Experte erklärt, dass Depressionen durch hirnorganische und neuroendokrinologische Veränderungen sowie Dysbalancen im Neurotransmitterhaushalt gekennzeichnet sind. Eine wichtige Rolle spielen dauerhaft erhöhte Stresshormon-Level und die damit verbundenen Veränderungen in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse.
„An diesen spezifischen Fallstricken wirken spezifische Therapien – Antidepressiva und Psychotherapie. Sport wirkt auch, aber nicht spezifisch bei Depression. Sport ist eine unspezifische Therapie. Weil das so ist, ist der Effekt geringer“, sagt Maier und betont, dass er die Relevanz von Sport keinesfalls in Abrede stelle. Entscheidend sei jedoch die individuelle Situation eines Patienten, in der psychosoziale Faktoren und eben Motivation markante Ko- und gegebenenfalls Gegen-Kriterien darstellen.
auch fragen, warum Sport bei Depression überhaupt hilfreich sein sollte.“
Dass es in der Tat gerade im Langzeitverlauf entscheidend darauf ankommt, die motivationalen Barrieren zu erkennen und zu überwinden, unterstreicht auch Broocks: „Nach Entlassung aus der stationären Behandlung verschlechtert sich mit unterschiedlich langer Latenz erneut der Zustand vieler Patienten bis hin zu einem Rezidiv. Offensichtlich gelingt es vielen nicht, bestimmte Aktivitäten, mit denen sie während ihres Klinikaufenthaltes gute Erfahrung gemacht haben, in ihren Alltag hinüberzuretten.“
Unverzichtbar in der Prävention
So wie das Laufen und der Sport eine unspezifische Wirkung entfaltet, ist auch der Bewegungsmangel für Maier lediglich ein Epiphänomen eines bestimmten Lebensstils, der seinerseits für die wachsende Zahl von psychischen Erkrankungen mitverantwortlich ist. Vor dem Hintergrund der scheinbar unaufhaltsamen Zunahme gerade depressiver Störungen betont er deshalb vor allem den Wert körperlicher Aktivität in der Prävention.
„Moderate Bewegung im aeroben Bereich von mindestens 150 Minuten pro Woche steht mit einem merklich geringeren Risiko für die Entwicklung einer Depression in Zusammenhang“, sagt Maier abschließend und verweist auf die aktuelle Ausgabe des American Journal of Preventive Medicine, das ein Update eines Review von 2008 zu diesem Thema publiziert hat [2].
30 meist hochqualitative Studien mit 6.363 Teilnehmern haben konsistente Belege dafür geliefert, dass täglich 30 Minuten körperliche Aktivitäten wie Gehen, Walken oder Gartenarbeit auch eine Depression zu verhindern vermag. Maier: „Das ist eine Aussage, die man ohne Wenn und Aber so stehen lassen kann.“