Nicht ohne meinen Doktor! – Substitution ärztlicher Leistung als „Worst Case“

Christian Beneker | 20. November 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Was wäre, wenn auch Krankenpflegerinnen Heilmittel verschreiben und psychosoziale Betreuung anbieten dürften? Viele Ärzte stehen einer solchen Substitution ihrer Arbeit durch andere medizinische Fachberufe mit Skepsis gegenüber. Pläne, die Substitution zu etablieren, gibt es bereits: Im Oktober 2011 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Richtlinie zur Übertragung von ärztlichen Tätigkeiten an spezialisierte Pflegekräfte verabschiedet [1]. Sie gilt für 8 Jahre.

„Leider gibt es bisher noch kein Pilotprojekt zur Substitution ärztlicher Leistungen und Übertragung auf Berufsangehörige der Alten- und Krankenpflege zur selbständigen Ausübung von Heilkunde“, schreibt Ann Marini, Sprecherin des GKV-Spitzenverbandes. Kurz: kaum ein Projekt ist am Start, auch bei den AOKen nicht. Warum nicht?

Was ist Substitution, was nicht?

„In Deutschland ist es … für die Patienten nicht einfach, sich in die Hände von Nicht-Ärzten zu geben.“
Dr. Bernhard Braun

Anders als die Substitution ist die Delegation ärztlicher Leistungen in Deutschland längst üblich. Ohne sie wäre eine Versorgung gar nicht möglich. Dabei werden ärztliche Aufgaben von Medizinern auf Nicht-Mediziner übertragen. Aber der Arzt bleibt Leistungserbringer im Sinne des Behandlungsvertrages. Die Delegation ist unter anderem in der Berufsordnung und dem Heilberufegesetz geregelt.

Anders ist es bei der Substitution. Sie bedeutet, dass bestimmte Leistungen der Heilkunde eigenverantwortlich von Nicht-Ärzten erbracht werden. Vor allem Physiotherapeuten und Hebammen möchten eigenverantwortlicher arbeiten, aber auch Medizinische Fachangestellte (MFA) oder Altenpflegerinnen mit besonderen Qualifikationen.

Der G-BA hat nun einen Katalog solcher bisher ärztlichen Leistungen für Pflegekräfte festgelegt, die im Rahmen von Modellvorhaben „auf Berufsangehörige der Kranken- und Altenpflege zur selbständigen Ausübung von Heilkunde übertragen werden können“, sofern sie entsprechend qualifiziert sind. Gemeint sind zum Beispiel das Legen eines transurethralen Blasenkatheters, die Verordnung von Medizinprodukten oder die psychosoziale Betreuung von Angehörigen von Patienten.

Kurz: Auch Nicht-Ärzte dürfen laut G-BA versuchsweise eigenverantwortlich Heilkunde ausüben. „Die Ausübung beinhaltet die Übernahme fachlicher, wirtschaftlicher und rechtlicher Verantwortung“, heißt es in dem Papier.

Die Ärzte bleiben reserviert

In der Ärzteschaft hat die Idee indessen praktisch keine Freunde. Denn die Substitution bedeutet unter Umständen weniger Honorar, weniger Kontrolle und weniger Bedeutung des ärztlichen Berufsstandes. Für sie wären die neuen Kollegen und Kolleginnen schlicht eine neue Versorgungsebene, die alles noch komplizierter macht. Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des G-BA-Papiers nahmen die Ärzteverbände deshalb Stellung.

„Die Versicherungen bestimmen inzwischen die Versorgung.“
Dr. Bernhard Braun

Im Februar 2012 haben 15 Verbände eine Resolution zum Thema verfasst. Sie läuft darauf hinaus, die Substitution ärztlicher Leistungen rundheraus abzulehnen [2]. Das Recht des Patienten auf den Facharztstandard würde unterlaufen, die Qualität der Versorgung würde sinken, die Kosten würden steigen, so die Resolution. Die ärztliche und ganzheitliche Sicht auf die Patienten dürfe nicht verloren gehen. Angesichts der mangelnden Motivation verwundert es nicht, dass bisher kaum Modellprojekte ins Leben gerufen wurden. Dabei hat man im Ausland ermutigende Erfahrungen gemacht.

Dr. Bernhard Braun vom Bremer Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) erklärt: „Wir wissen aus anderen Ländern, dass die Kooperation medizinischer Fachberufe und Ärzte in Teams die Versorgung zum Beispiel von COPD-Patienten gleich gut oder sogar besser erledigt als der klassische Arzt allein. Die Patienten sind zufriedener und billiger ist die Versorgung auch.“

Ähnliche Ergebnisse zeige eine Studie aus Holland, wo eigens ausgebildete „Practise Nurses“ die Diabetikeskranken nicht nur gut, sondern vergleichbar gut, wenn nicht sogar besser behandeln könnten als Allgemeinärzte, so Braun [3]. Das würde zumindest einen Teil der Befürchtungen der 15 Ärzteverbände widerlegen. 

Was wollen Patienten und wer haftet?

Allerdings sind Holland oder die USA nicht Deutschland; das weiß Braun auch. „In Deutschland ist es nach unseren Erfahrungen für die Patienten nicht einfach, sich in die Hände von Nicht-Ärzten zu geben“, berichtet er, „bei deutschen Patienten gibt es schnell so etwas wie das `Worst-Case-Szenario´: Man möchte für alle Fälle doch lieber einen Arzt an der Seite haben.“

Natürlich kann ein Physiotherapeut nicht erkennen, ob ein Rückenschmerz von einem Pankreaskarzinom herrührt. „Aber diese Diagnose ist auch extrem selten“, wendet Braun ein. Wesentlich sei der Teamgedanke. „Alle Gesundheitsberufe sollen sich aus ihrer Perspektive auf Augenhöhe zueinander zur Behandlung äußern können und so kooperieren“, sagt Braun. „Das dürfte auf Dauer auch die Patienten überzeugen.“

„Darum brauchen wir ein Delegationsgesetz. Die Ärzteschaft … muss die Initiative ergreifen.“
Dr. Patricia Aden

Der Teamgedanke stößt jedoch schnell an Grenzen, wenn es um rechtliche Verantwortung – sprich Haftung – geht. „Die Versicherungen bestimmen inzwischen die Versorgung“, kritisiert Braun die Situation. Die Frage, wer im Falle einer Substitution ärztlicher Leistungen haftet, ist deshalb von großer Bedeutung, allerdings im Zusammenhang von Substitution ungeklärt und schwer zur beantworten. Braun schlägt vor, im Zweifel den Gesetzgeber zu fordern.

„Hebammen können sich zum Teil die Versicherungsbeiträge nicht mehr leisten und also nicht mehr arbeiten. Die Frage ist, ob man sich das als Gesetzgeber länger gefallen lässt“, so Braun. Wenn man Substitution will, müsse man die Bestimmungen entsprechend ändern.

Lösungsvorschlag: erweiterte Delegation

Dr. Patricia Aden, Ärztin und Delegierte der Kammerversammlung Nordrhein, unterrichtet am Robert-Schmidt-Berufskolleg in Essen Medizinische Fachangestellte. „Ich plädiere für eine erweiterte Delegation“, sagt Aden zu Medscape Deutschland, „denn das Verhältnis der Fachberufe zueinander und die Bewertung einzelner Tätigkeiten hat sich geändert. Früher durften nur Ärzte den Blutdruck messen, dann durften es auch die MFA, heute machen das die Patienten selber.“

Die Ärzteschaft dürfe diese Änderungen nicht ignorieren und die Frage der Substitution nicht aussitzen, sonst würden die Ärzte irgendwann von der Versorgungsrealität überholt. „Darum brauchen wir ein Delegationsgesetz. Die Ärzteschaft muss von sich auf die Politik zugehen und das Gesetz anstoßen. Sie muss die Initiative ergreifen“, so Aden.

In dem Gesetz sollten die erweiterten delegierbaren Leistungen und die nichtärztlichen Leistungserbringer festgelegt werden. Zugleich wäre bei einer erweiterten Delegation die schwierige Haftungsfrage geklärt: Sie bleibt beim Arzt.

Allerdings glaubt Aden, dass sich keineswegs alle MFA darum reißen würden, eigenständigere Versorgungsaufgaben zu übernehmen: „Es gibt besonders gut ausgebildete MFA, die dann auch dazu bereit sind. Aber es gibt auch zurückhaltende Kolleginnen, die diese Aufgaben nicht übernehmen wollten.“

Referenzen

Referenzen

  1. Richtlinie zur Übertragung von ärztlichen Tätigkeiten an spezialisierte Pflegekräfte, 20.11.2011
    http://www.g-ba.de/downloads/39-261-1401/2011-10-20_RL_%C2%A7-63_Abs-3c_Erstfassung_BAnz.pdf.GKV
  2. Resolution der 15 ärztlichen Spitzenverbände, 23.2.2012
    http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/24022012_-_Resolution_Verbaendegespraech.pdf
  3. Houwelling ST, et al: J Clin Nurs. 2011;20(9-10):1264-1272
    http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21401764

Autoren und Interessenkonflikte

Christian Beneker
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Marini A, Braun B, Aden P: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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