US-Leitlinie zur Cholesterinsenkung polarisiert: Statt Zielwert jetzt prozentuale LDL-Reduktion

Nadine Eckert | 18. November 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Liegt eine kardiovaskuläre Vorerkrankung vor, soll der LDL-Cholesterinspiegel auf unter 100 mg/dl gesenkt werden, bei Hochrisiko-Patienten sogar auf 70 mg/dl. Hierin waren sich die internationalen Leitlinien bislang einig. Doch die gerade veröffentlichten neuen Leitlinien der amerikanischen Fachgesellschaften werfen das Dogma vom unbedingt zu erreichenden Zielwert komplett über den Haufen.


Dr. Wolfgang Derer

Für Zielwerte gebe es keine Evidenz, heißt es, von nun an soll alles über das Gesamtrisiko, das Erreichen einer prozentualen LDL-Reduktion und die Wahl einer intensiven oder weniger intensiven Statintherapie geregelt werden [1].

Der Berliner Kardiologe Dr. Wolfgang Derer ist von dem neuen Konzept sehr angetan. Gegenüber Medscape Deutschland betonte der Oberarzt und Leiter der Poliklinik an der Klinik für Kardiologie und Nephrologie im HELIOS Klinikum Berlin-Buch: „Das sind sehr gut gemachte Leitlinien, da sie sich auf die Evidenz beziehen, die es gibt. Bisher beruhte bei der Behandlung der Hypercholesterinämie sehr viel mehr auf Expertenmeinung.“ Und den Autoren der neuen Leitlinien zufolge gebe es schlicht keine Evidenz aus randomisiert-kontrollierten klinischen Studien, die die Behandlung bis zum Erreichen eines definierten Zielwerts unterstützen würden.


Prof. Dr. Ulrich Laufs

Allerdings fehle diese Evidenz auch für die neuen Empfehlungen der American Heart Association (AHA) und des American College of Cardiology (ACC), sagte Prof. Dr. Ulrich Laufs von der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum des Saarlandes. Weder die Reduktion des LDL-Cholesterins um einen bestimmten Prozentwert noch Zielwerte sind prospektiv in Studien geprüft worden. Übereinstimmung zwischen den Kontinenten besteht in der Evidenz für LDL-Cholesterin (LDL-C) als entscheidender kausaler Risikofaktor für Atherosklerose.

Starre Zielwerte sind schwer zu erreichen

Doch „die Behandlung bis zu einem Zielwert bringt diverse Probleme mit sich“, sagte der Vorsitzende des Leitlinienkomitees, Dr. Neil Stone von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago, während einer Pressekonferenz. Dies gelte insbesondere für Patienten, deren Werte zwar nahe an den Zielwert gebracht werden, ihn aber einfach nicht erreichen.

„Was ist, wenn Ihr Patient zur Sekundärprävention eine hochintensive Statintherapie erhält, einen exzellenten Lebensstil einhält und damit aber nur einen LDL-Cholesterinwert von 78 mg/dl erreicht?“, fragte Stone. „Um einen Zielwert von unter 70 mg/dl zu erreichen, müsste er jetzt noch zusätzliche Medikamente einnehmen, deren Nutzen auf kardiovaskuläre Endpunkte nicht bewiesen ist.“

„Doch nach den neuen Leitlinien haben Sie das Therapieziel erreicht, wenn der Ausgangs-LDL-Cholesterinwert mehr als halbiert wurde“, sagte Derer. „Der Patient fühlt sich nicht als Therapieversager.“

Welche Patienten immer von einem Statin profitieren

„Bisher beruhte bei der Behandlung der Hypercholesterinämie sehr viel mehr auf Expertenmeinung.“
Dr. Wolfgang Derer

Die neuen amerikanischen Leitlinien definieren 4 Patientengruppen, die in der Primär- und Sekundärprävention prinzipiell von der Therapie mit einem Statin profitieren. Sie geben anschließend Empfehlungen für die Intensität der Therapie, um eine relative Absenkung des LDL-Cholesterinspiegels zu erreichen.

Diese 4 Patientengruppen sind:

  • Patienten mit nachgewiesener kardiovaskulärer Erkrankung;
  • Patienten mit LDL-Cholesterinwerten > 190 mg/dl (z.B. bei erblicher Hypercholesterinämie);
  • Diabetiker zwischen 40 und 75 Jahren, deren LDL-Cholesterinwerte bei 70 bis 189 mg/dl liegen und die keine Anzeichen für eine kardiovaskuläre Erkrankung aufweisen;
  • Patienten ohne Anzeichen für eine kardiovaskuläre Erkrankung oder Diabetes, die aber LDL-Cholesterinwerte von 70 bis 189 mg/dl sowie ein 10-Jahres-Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung > 7,5% haben.

Bei denjenigen mit kardiovaskulärer Erkrankung sollte den neuen Leitlinien zufolge eine hochintensive Statintherapie durchgeführt werden, zum Beispiel mit 20 bis 40 mg Rosuvastatin oder 80 mg Atorvastatin, um eine mindestens 50%ige Reduktion des LDL-Cholesterin zu erreichen – es sei denn, die Therapie ist anderweitig kontraindiziert oder es liegen bereits statinbedingte Nebenwirkungen vor. In diesem Fall wird empfohlen, ein Statin mit moderater Intensität anzuwenden.

„Nach den neuen Leitlinien haben Sie das Therapieziel erreicht, wenn der Ausgangs-LDL-Cholesterinwert mehr als halbiert wurde.“
Dr. Wolfgang Derer

Auch für Patienten mit LDL-Cholesterinwerten > 190 mg/dl wird eine hochintensive Statintherapie empfohlen – mit dem Ziel, den LDL-Cholesterinspiegel um mindestens die Hälfte zu senken.

Diabetiker zwischen 40 und 75 Jahren sollten ein Statin von moderater Intensität erhalten – eines, das das LDL-Cholesterin um 30 bis 49% senkt. Eine hochintensive Statintherapie ist bei diesen Patienten indiziert, wenn sie zusätzlich ein 10-Jahres-Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung von über 7,5% haben.

Für Patienten zwischen 40 und 75 Jahren ohne Anzeichen für eine kardiovaskuläre Erkrankung oder Diabetes, die aber LDL-Cholesterinwerte von 70 bis 189 mg/dl sowie ein 10-Jahres-Risiko > 7,5% haben, empfehlen die Leitlinien-Autoren die Behandlung mit einem moderat- oder hochintensiven Statin.

Deutschland: US-Leitlinie würde für viele deutlich höhere Statindosen bedeuten

„Für die Mehrheit unserer Patienten würden diese Empfehlungen eine deutliche Intensivierung der Therapie bedeuten“, sagte Laufs. „Ein Beispiel: Für die meisten Patienten mit unkomplizierter stabiler KHK und moderater Hypercholesterinämie (z.B. LDL-C von 120 mg/dl) reichen zur Erzielung eines LDL-C-Zielwertes von 100 geringe Dosierungen (z.B. 20 mg Atorvastatin), die AHA/ACC fordern für diese Patienten jedoch 80 mg Atorvastatin.“

„Für die Mehrheit unserer Patienten würden diese Empfehlungen eine deutliche Intensivierung der Therapie bedeuten.“
Prof. Dr. Ulrich Laufs

Stone räumte ein, dass es wahrscheinlich nicht einfach sein werde, die alten Zielwerte aus den Köpfen der Mediziner zu löschen. Doch die neuen Leitlinien könnten für die Ärzte auch eine Vereinfachung der Behandlung bedeuten. „Durch die klare Definition der Gruppen wird es einfacher, die Patienten einzuordnen“, sagte auch Derer.

Ganz anders Laufs: „Aus meiner Sicht ist ein Nachteil der prozentualen Senkung, dass nun eher komplexe Berechnungen vom Hausarzt erwartet werden. Zum anderen muss der LDL-Ausgangswert bekannt sein, dies ist im Alltag häufig nicht der Fall.“

Und die neuen Leitlinien bedeuten auch nicht, dass der LDL-Cholesterinwert nicht mehr gemessen werden soll. „Die Messung ist zum einen notwendig, um die Therapietreue zu überprüfen“, sagte Derer. „Zum anderen braucht man sie, um zu sehen, ob man den Ausgangswert-LDL erfolgreich um 30 oder 50% gesenkt und damit das Therapieziel erreicht hat.“

Ein neuer Risikoscore soll bei der Umsetzung der Leitlinie helfen

Um zu ermitteln, ob ein Patient ein kardiovaskuläres 10-Jahres-Risiko unter oder über 7,5% hat, geben die Leitlinien-Autoren den Ärzten gleich noch ein neues Werkzeug zur Risikobeurteilung an die Hand. Dieser neue Risikoscore ist konzipiert, um das Risiko eines künftigen kardiovaskulären Ereignisses abzuschätzen. Er basiert auf ethnisch und geographisch vielfältigen Kohorten – wie der Framingham Heart Study (FHS), der Atherosclerosis Risk in Communities (ARIC)-Studie, der Coronary Artery Risk Development in Young Adults (CARDIA)-Studie und der Cardiovascular Health Study (CHS) [2 bis 5].

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Referenzen

  1. Stone NJ, et al: Circulation (online) 12. November 2013
    http://dx.doi.org/10.1161/01.cir.0000437738.63853.7a
  2. Framingham Heart Study (FHS) – Homepage:
    www.framinghamheartstudy.org
  3. Atherosclerosis Risk in Community Study (ARIC) – Homepage:
    http://www.cscc.unc.edu/aric
    und  http://www2.cscc.unc.edu/aric
  4. Coronary Artery Risk Development in Young Adults (CARDIA) – Homepage:
    www.cardia.dopm.uab.edu
  5. Cardiovascular Health Study Cohort (CHS) – Homepage:
    http://www.ncbi.nlm.nih.gov/projects/gap/cgi-bin/study.cgi?study_id=phs000287.v3.p1

Autoren und Interessenkonflikte

Nadine Eckert
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Laufs U: Vortragshonorare von Amgen, AstraZeneca, MSD, Sanofi und Roche

Derer W: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

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