Düsseldorf – In ihrer täglichen Praxis sehen Pädiater seltene Stoffwechselerkrankungen naturgemäß nicht häufig. Die 109. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ) machte einige dieser raren Krankheiten zum Thema – unter anderem Morbus Hunter und Morbus Gaucher. Beide zeichnen sich durch frühe Symptome aus, die harmlos wirken oder von vielen als psychosomatisch abgetan werden: „Simulant oder unerkannt?“ lautete nicht umsonst der Titel des einschlägigen Symposiums [1].
„Wenn ein Gymnasiast häufig Bauchschmerzen hat, gibt es schnell die Hypothese: Der leidet unter dem G8.“ So begann Dr. Eugen Mengel, Experte für lysosomale Speicherkrankheiten am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz, eine Patientengeschichte. „Der Junge, elf Jahre alt, war dreimal binnen sechs Monaten wegen seiner Bauchschmerzen beim Kinderarzt. Die Mutter berichtete, dass ihr Sohn verglichen mit seinen Geschwistern auffällig sei.“ Denn plötzlich legte der Junge sich mittags oft noch 2 Stunden schlafen.
Die Vermutung, dass die neue Schule ihn überfordere, konnten die Eltern entkräften: Schlechte Noten gab es nicht, außer in Sport, und in den Ferien wurden die Schmerzen schlimmer, nicht besser. Bei der genaueren Untersuchung fiel der große Bauch des Jungen auf, verglichen mit den dünnen Extremitäten. Schließlich wurde eine Splenomegalie gefunden, im Serum fiel die stark erhöhte Aktivität des Enzyms Chitotriosidase auf. Der Weg bis zur Diagnose Morbus Gaucher war nicht mehr weit.
Morbus Gaucher: unspezifische Symptome, spezifische Therapie
„Morbus Gaucher ist die häufigste lysosomale Speichererkrankung mit einer Häufigkeit von 1:50:000 bis 1:60.000“, informierte Mengel die Zuhörer. Ein bei gesunden Menschen aktives Enzym, die ß-Glucocerebrosidase, ist bei den Betroffenen nicht oder nur in sehr geringem Maße aktiv. Dadurch kann Glucosylceramid nicht, wie sonst üblich, in Glucose und Ceramid zerlegt und abgebaut werden. Es reichert sich in den Lysosomen der Zellen des retikulo-endothelialen Systems an, vor allem in Makrophagen. Das verändert die Zellen und macht sie zu sogenannten Gaucher-Zellen.
Vor allem Milz und Leber sind betroffen, außerdem das Knochenmark und manchmal auch Lunge, Herz, Niere und andere Organe. Die Symptome sind, so Mengel, „bei 95% der Betroffenen Splenomegalie, bei 78% Hepatomegalie.“ Außerdem klagen die Patienten infolgedessen häufig über Bauchschmerzen. Die ebenfalls dazugehörige Anämie führt zu allgemeiner Schlappheit und Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Knochenschmerzen und Wachstumsstörungen – unspezifische Symptome, die deshalb nicht wegweisend sind.
Der Elfjährige hatte Glück im Unglück: Er leidet an der nicht-neuropathischen Form des Morbus Gaucher, die früher Typ I genannt wurde. Für den Jungen, so Mengel, kam die Enzymersatztherapie, die er verordnet bekam, früh genug: Die Milz schrumpfte, das Bauchweh verschwand, mit der Anämie ging die Müdigkeit verloren. Auch auf Knochen und Wachstum hat die Enzymersatztherapie erwiesenermaßen eine gute Wirkung [1].
Mengel zeigte Vorher-Nachher-Fotos, um zu demonstrieren, wie sich der Körperbau der Betroffenen normalisiert: „Die Kinder sprechen sehr gut auf die Enzymersatztherapie an.“ Patienten mit nicht-neuropathischem Morbus Gaucher – etwa 95% aller Erkrankten – können ein langes, gutes Leben vor sich haben, müssen aber durchgehend behandelt werden.
Morbus Hunter: eine Krankheit – viele Varianten
Mit Morbus Hunter stellte Dr. Nicole Muschol eine Stoffwechselkrankheit vor, die noch seltener ist als M. Gaucher. Muschol ist Expertin für Mucopolysaccharidosen (MPS) und lysosomale Speicherkrankheiten an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Beide Erkrankungen werden vererbt, aber anders als Morbus Gaucher, der autosomal-rezessiv weitergegeben wird, verläuft die Vererbung beim Morbus Hunter X-chromosomal rezessiv und betrifft somit fast nur Jungen.
1,3 Erkrankte kommen, statistisch gesehen, auf 100.000 männliche Neugeborene [2]. Muschol berichtete von einem Jungen, der schon als Säugling oft mit Atemwegsinfekten bis hin zu Pneumonien zu kämpfen hatte. Als der Junge im Alter von 19 Monaten zur Adenotomie ins Krankenhaus kam, fiel seine vergrößerte Zunge dem behandelnden Team ebenso auf wie seine eher groben Gesichtszüge und die buschigen Haare.
Morbus-Hunter-Patienten sehen ihren Eltern oft weniger ähnlich, als sie einander ähneln, wie zudem eine Foto-Ausstellung im Rahmen des DGKJ-Jahreskongresses verdeutlichte: Viele haben vergleichsweise große Köpfe, kurze, breite Nasen und ein auffallend sonniges Lächeln mit vollen Lippen und kleinen Zähnen.
Morbus Hunter zählt zu den Mucopolysaccharidosen (MPS), bei denen die lysosomalen Enzyme, die Glykosaminoglykane spalten, defekt sind. Diese reichern sich in Lysosomen an und zerstören letztendlich die Zelle. Es kommt zu progredienten Skelettdeformationen, Kontrakturen und einer Hepatosplenomegalie, in schweren Fällen tritt auch eine Kinderdemenz auf. Wird eine MPS vermutet, wird zunächst der Urin untersucht. Erhärtet sich der Verdacht, folgen Bluttests und Untersuchungen von Leukozyten oder Hautfibroblasten.
Enzymersatz ist kein Allheilmittel
Beim Morbus Hunter (Typ II der MPS) fehlt den Betroffenen das Enzym Iduronat-2-Sulfatase, das bei Gesunden Dermatan- und Heparansulfat abbaut. Zusätzlich zu den typischen MPS-Symptomen weisen die Jungen und Männer u. a. eine Anfälligkeit für Infektionen der Atemwege, eine Neigung zu Nabel- und Leistenhernien, Hyperaktivität, Herzprobleme und/oder Hör- und Sehstörungen auf.
Der bereits beschriebene Patient erwies sich als schwerer Fall. Muschol berichtete: „Er bekam eine Enzymersatztherapie und außerdem mit 25 Monaten eine Knochenmarktransplantation, wurde sechs Monate später hyperaktiv und machte weitere Rückschritte. Mit vier Jahren verlernte er das Sprechen.“ Rückblickend räumt sie ein: „Die Knochenmarktransplantation ist hierfür noch in einem experimentellen Stadium, das würden wir heute wohl nicht mehr machen.“
Besser geht es einem anderen Patienten, dessen Fallbeispiel Muschol ebenfalls in Düsseldorf vorstellte. Es handelte sich um ein Kind mit zarten Gesichtszügen, bei dem das äußere Erscheinungsbild allein nie hätte an Morbus Hunter denken lassen. Er konnte mit einem Dreivierteljahr sitzen, lernte mit knapp über einem Jahr laufen. Bauchschmerzen und Besuche beim HNO kamen auch bei ihm häufig vor.
Bei der U7 fiel ein Herzgeräusch auf. „Bei ihm fielen uns die typischen papulösen Hautveränderungen auf, die sogenannte peau d’orange“, erklärte Muschol. Der Allgemeinzustand des Patienten konnte in diesem Fall durch die Enzymersatztherapie stabilisiert werden.
Jungen, die eine leichte, nicht-neuropathische Form des Morbus Hunter haben, weisen einen normalen IQ auf und haben unter Umständen eine nur leicht verkürzte Lebenserwartung. Auch hier gilt: Je früher die Erkrankung erkannt wird und die Therapie einsetzt, desto besser ist die Lebensqualität, die für die Kinder und ihre Familien erzielt werden kann. 2 Beispiele von vielen auf der DGKJ 2013, die belegten: Wenn ein Junge oder Mädchen unter vielen Atemwegsinfekten leidet, oder wenn Symptome wie Bauchschmerzen und Müdigkeit nicht verschwinden, kann das vielerlei Ursachen haben. Selten, aber manchmal eben doch, handelt es sich um angeborene Stoffwechselerkrankungen.