Britische Forscher prangern die Übertherapie mit Schilddrüsenhormonen an: Eigentlich gesunde Patienten würden als schilddrüsenkrank diagnostiziert und mit einschlägigen Hormonen behandelt, aber die Entscheidung für die Therapie basiere häufig auf nur einer einzigen Messung. „Die Verschreibungen von Schilddrüsenhormonen haben sowohl in den USA als auch in Großbritannien in den vergangenen Jahren stark zugenommen“, berichten Peter N. Taylor und seine Kollegen von der Thyroid-Forschungsgruppe der Cardiff-Universität im Journal der American Medical Association für Internisten, JAMA Internal Medicine [1].
Ein Verordnungsverhalten, das Prof. Dr. Dagmar Führer, Vize-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, auch hierzulande beobachtet: „Auch in Deutschland werden viel zu schnell Schilddrüsenhormone verordnet, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wo das Problem eigentlich herkommt – und ob es überhaupt eines ist.“
Mehr Therapie durch mehr Tests – oder ist es doch die Schwelle?
Die Schilddrüsenfunktion werde heute häufiger überprüft als früher, schreiben Taylor und sein Team. Dies könnte ein Grund für die gestiegene Zahl an Diagnosen und Verordnungen sein. Doch ein weiterer Faktor sei das Absinken der TSH-Schwelle, ab der mit der Levothyroxinbehandlung begonnen werde.
das in der Praxis pragmatisch gelöst, sie haben einfach Schilddrüsenhormone aufgeschrieben.“
Die Autoren der Studie hatten untersucht, ab welchem TSH (Thyreoidea-stimulierendes Hormon)-Wert britische Hausärzte eine Therapie mit dem Schilddrüsenhormon verordnen. Aus einer populationsbasierten Datenbank extrahierten sie gut 52.000 Patienten, die zwischen 2001 und 2009 eine Verschreibung für Levothyroxin erhalten hatten.
In diesem Zeitraum war der mediane TSH-Wert, bei dem mit einer Schilddrüsenhormontherapie begonnen wurde, von 8,7 mIU/l auf 7,9 mIU/l gesunken. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei TSH-Werten unter 10 mIU/l eine Therapie initiiert wurde, war im Jahr 2009 um 30% höher als 2001. Dies galt insbesondere für ältere Menschen und Patienten mit kardialen Risikofaktoren.
Jahrelange Diskussion: Was ist noch gesund, was schon krank?
„Dieses Absinken der Therapieschwelle ist genauso auch in Deutschland zu beobachten“, sagt Führer im Gespräch mit Medscape Deutschland. Die Direktorin der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen sieht diese Entwicklung als Konsequenz einer über Jahre unter Schilddrüsenexperten geführten Diskussion zu der Frage, welcher TSH-Wert nun normal und welcher behandlungsbedürftig ist. „Viele Ärzte haben das in der Praxis pragmatisch gelöst, sie haben einfach Schilddrüsenhormone aufgeschrieben“, sagt Führer.
Die Leitlinien der American Thyroid Association empfehlen, eine Therapie mit Levothyroxin bei grenzwertigen TSH-Werten (TSH-Konzentration 4 bis 10 mIU/l) in Betracht zu ziehen, wenn der Patient eindeutige Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion zeigt, positive Schilddrüsen-Antikörper aufweist oder es Hinweise auf eine atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankung oder Herzinsuffizienz gibt.
Ursachensuche nicht vernachlässigen
Auf keinen Fall dürfe bei grenzwertigen TSH-Werten den Patienten aufgrund einer einzigen Messung bereits Schilddrüsenhormone verordnet werden, betonte Führer. Wenn bei einem Patienten ein erhöhter TSH-Wert gemessen werde, sollten weitere Untersuchungen wie eine Schilddrüsensonographie und eine Bestimmung der Schilddrüsen-Antikörper gemacht werden. „Der Arzt muss sich einen Kopf machen, wo das Problem herkommt, bevor er mit der Therapie beginnt“, betonte Führer.
Bei einem Teil der Patienten lässt sich die Ursache allerdings nicht finden. Bei diesen rät die Endokrinologin im Verlauf zu einer erneuten Kontrolle des TSH-Wertes. „Dann wird man nämlich feststellen, dass bei einem Großteil der Spuk plötzlich vorbei ist und aus einem erhöhten TSH wieder ein normaler Wert geworden ist.“
Es gibt zahlreiche Faktoren, die den TSH-Wert verändern können, ohne dass eine Schilddrüsenunterfunktion vorliegt: Schwere Krankheiten, Medikamente, Übergewicht und selbst Stress können zum Beispiel zu vorübergehenden Auslenkungen des TSH-Wertes führen. Einen guten Überblick über Medikamente, die den TSH-Spiegel verändern können, liefert eine schon etwas ältere Arbeit im New England Journal of Medicine, die bereits aus dem Jahr 1995 stammt, aber noch Gültigkeit hat [2].
„Deshalb gilt bei Grenzbefunden zwischen 4 und 10 mIU/l – wenn keine offensichtliche Erklärung für den erhöhten Wert vorliegt –, dass man den Patienten noch einmal einbestellt und diesen Wert erneut abnimmt“, betont Führer. Das entspreche auch den internationalen Empfehlungen, „an die wir uns halten sollten“.
Überflüssige Verordnungen bedrohen die Gesundheit der Patienten
Was andernfalls für Folgen drohen, zeigt ein weiteres Ergebnis der Studie von Taylor und Kollegen: 5 Jahre nach Beginn der Levothyroxintherapie hatten nahezu 6% der Patienten einen TSH-Wert unter 0,1 mIU/l. Besonders häufig betraf dies Menschen, die zu Studienbeginn an ständiger Müdigkeit oder Depressionen gelitten hatten.
„Das passiert, wenn man Menschen behandelt, die man nicht behandeln darf, weil sie nicht krank sind“, sagt Führer. „Im schlimmsten Fall verursacht man bei einem gesunden Menschen eine Schilddrüsenüberfunktion.“ Die Folge ist ein erhöhtes Gesundheitsrisiko, etwa für Herzrhythmusstörungen, die zu Schlaganfällen oder bei alten Menschen mit krankem Herzen zu einer Herzinsuffizienz führen können.
überfunktion.“
Auch die Autoren der Studie betonen: „Wenn die niedrigere Therapieschwelle für den Anstieg der Verschreibungen verantwortlich ist, dann wird die Behandlung wahrscheinlich mehr schaden als nutzen. Wenn das Verordnungsverhalten so weitergeht wie bisher, bekommen wahrscheinlich 30% der Menschen die Verschreibung ohne akzeptierte Indikation. Und ihnen drohen gesundheitliche Risiken durch zu niedrige TSH-Konzentrationen.“