Paracetamol unter der Lupe: Wird die Gefahr der Überdosierung unterschätzt?

Julia Rommelfanger | 24. Oktober 2013

Autoren und Interessenkonflikte

150 Todesfälle im Jahr registriert die US-Gesundheitsbehörde Centers of Disease Control and Prevention (CDC) infolge einer unbeabsichtigten Überdosis von Paracetamol, das in den USA eher unter dem Wirkstoffnamen Acetaminophen bekannt ist und dort von der Firma McNeill unter dem Namen Tylenol® in Drogeriemärkten frei verkäuflich ist. Journalisten warnen deshalb in einem eigenen Dossier vor den verkannten Gefahren einer Paracetamol-Überdosierung auf der US-amerikanischen Internetseite ProPublica [1]. 

„Tribut muss nicht so hoch sein“

Eine Paracetamol-Überdosis ist die häufigste Ursache für akutes Leberversagen in den USA, genau wie in Großbritannien. Die Autoren weisen darauf hin, dass der Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA), die normalerweise mit harter Hand über Zulassungen und Verschreibungspflichten auf dem US-amerikanischen Medikamentenmarkt wacht, bereits zahlreiche Studien zu den Risiken von Paracetamol bekannt seien. „Besonders die Spanne zwischen der Menge, die hilft und derjenigen, die ernsthafte Schäden verursachen kann, ist enger als bei anderen Schmerzmittel“, schreiben die Journalisten Jeff Gerth und Christian Miller. Dieses Risiko aufgrund des engen therapeutischen Fensters, sagen die Autoren, sei auch McNeil Consumer Healthcare, der Johnson & Johnson-Einheit, die Tylenol® vermarktet, bekannt. Dennoch fehlten bisher Maßnahmen, die Todesfälle und Schädigungen durch eine Überdosis verhindern könnten, heißt es in ihrem Dossier.

„Der deutsche Konsument nimmt an, dass alles, was frei verkäuflich, auch absolut sicher ist.“
Prof. Dr. Kay Brune

Auch in Deutschland warnen Experten vor den Gefahren einer Überdosierung des Wirkstoffs. Paracetamol ist als Schmerz- und Fiebermittel in Apotheken bis zu einer absoluten Höchstmenge von 10 g pro Packungsgröße – etwa in der gängigsten Form von 20 Tabletten à 500 mg aber auch in entsprechender Dosishöchstmenge bei Zäpfchen oder Sirup – rezeptfrei erhältlich. Die Einnahme von mehr als 150 mg/kg Körpergewicht kann zu einer irreversiblen Schädigung der Leberzellen oder sogar zu Leberversagen führen.

Laut Statistik sterben 1 bis 2 Menschen in Deutschland jährlich an den Folgen einer unbeabsichtigten Überdosierung von Paracetamol. Der Arzneistoff aus der Gruppe der Nichtopioid-Analgetika ist nach Ibuprofen das hierzulande am häufigsten verkaufte Schmerzmittel.

Verbraucher unterschätzen mögliche Leberschäden


Prof. Dr. Kay Brune

„Der deutsche Konsument nimmt an, dass alles, was frei verkäuflich, auch absolut sicher ist“, sagt Prof. Dr. Kay Brune vom Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Erlangen in einem Interview mit Medscape Deutschland. „Dem ist im Fall von Paracetamol jedoch nicht so.“ Schon seit Jahren setzt sich der Pharmakologe für eine Verschreibungspflicht von Paracetamol ein – aus gutem Grund, findet er. „Es gibt auch in Deutschland zahlreiche Fälle von Vergiftungen und Todesfällen durch eine Paracetamol-Überdosierung, die jedoch häufig – anders als in den USA – nicht gemeldet werden“, sagt er. Bis 4 g pro Tag sei die Einnahme von Paracetamol-haltigen Präparaten  meist unbedenklich, so Brune. „Darüber hinaus ist die Gefahr für die Leber groß. Hilfe bringt dann nur die sofortige, frühzeitige Anwendung eines Gegenmittels oder eine Lebertransplantation.“

Besonders hoch sei die Gefahr einer Überdosierung im Zusammenhang mit Alkoholkonsum und bei Kombi-Präparaten wie Schmerz- und Grippemitteln, die Paracetamol enthalten. „Der Konsument kennt die Inhaltsstoffe solcher Arzneimittel meist nicht“, erläutert der Pharmakologe und warnt: „Eine junge  Frau, die ein Grippemittel plus mehrere Kopfschmerztabletten sowie eine oder zwei Tabletten gegen Menstruationsbeschwerden einnimmt, überschreitet unwissentlich die erlaubte Dosis von vier Gramm pro Tag und befindet sich in akuter Gefahr. Daher wäre meiner Meinung nach die Unterstellung von Paracetamol unter die Rezeptpflicht genau das, was solche Fälle verhindern könnte.“

BfArM lehnt Rezeptpflicht ab

Einen Antrag auf Verschreibungspflicht lehnte der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bereits 2012 mehrheitlich ab – mit dem Hinweis auf die im Vergleich zu den USA geringe Anzahl toxischer Leberschäden, die auf Paracetamol zurückzuführen sind.  

„Es gibt auch in Deutschland zahlreiche Fälle von Vergiftungen und Todesfällen durch eine Paracetamol-Überdosierung, die jedoch häufig nicht gemeldet werden.“
Prof. Dr. Kay Brune

Dennoch: In der Anfragestatistik des Gemeinsamen Giftinformationszentrums (GGIZ) der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen von 2000 bis 2009 liegt Paracetamol auf Platz 1 – sowohl bei Vergiftungen Erwachsener als auch bei denen von Kindern [3].

„Wahrscheinlich sehen die Verantwortlichen das Problem auch in Deutschland als bedrohlich, wenn ein bekannter Politiker, Schauspieler oder Sportler an einer Paracetamol-Vergiftung erkrankt. Heute würde Paracetamol gar nicht mehr zugelassen, weil es in Tierversuchen zu toxisch wäre“, sagt Brune. Die Schmerzmittelgruppe zu der Paracetamol gehört, wurde bereits 1878 entdeckt und „nie systematisch untersucht“. Trotzdem wurden alle Verwandten des Paracetamol wegen ihrer Gefährlichkeit im Laufe der Zeit verboten.

Erreicht haben Brune und andere Experten, die vor den Gefahren einer Paracetamol-Überdosierung warnen, seit 2009 eine Begrenzung der Packungsgrößen von rezeptfreien Paracetamol-Präparaten auf 10 Gramm.

„Heute würde Paracetamol gar nicht mehr zugelassen, weil es in Tierversuchen zu toxisch wäre.“
Prof. Dr. Kay Brune

Als problematisch sieht Brune zudem die Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft und während der Geburt an, aufgrund einer möglichen Erhöhung des Asthma-Risikos beim Kind. „Bei dauerhafter Medikation steigt zudem der Blutdruck an und das Herz-Kreislauf-System nimmt Schaden. Nehmen sollten Patienten Paracetamol daher nur noch bei Kontraindikationen gegen modernere Alternativen, die bei Überdosierung nicht lebensgefährlich sind“, sagt Brune. Es sei eben nicht so, dass Altsubstanzen besonders harmlos sind. Für manche bereits lange auf dem Markt und in den Regalen der Apotheken befindlichen Substanzen fehlten epidemiologisch begründete Sicherheitsnachweise.

Gefahren einer Unterdosierung?

Eine andere Position in der Diskussion um Paracetamol vertritt Prof. Dr. Bernd Mühlbauer vom Institut für Pharmakologie im Klinikum Bremen-Mitte: „Die Situation ist in zweierlei Hinsicht problematisch“, erklärt er gegenüber Medscape Deutschland. Durch viele Selbstmordversuche in England mit Paracetamol sei erstens eine Art Phobie entstanden, „die übertrieben ist und zu einer Unterdosierung führt.“ Zweitens habe Paracetamol das Image eines „schwachen Schmerzmittels“, zu dem Menschen mit starken Beschwerden aus diesem Grund nicht greifen wollen. „Tatsächlich handelt es sich aber um ein wirkungsvolles und wertvolles Schmerzmittel“, betont Mühlbauer.

Ihm sind nicht viele Fälle von Überdosierung, insbesondere keine tragischen, bekannt. „Wenn man Paracetamol unter die Rezeptpflicht nähme, müsste man das mit vielen Medikamenten machen“, sagt er. „Ich bin gegen eine Überregulierung. Vielmehr traue ich den Patienten eine gewisse Eigenverantwortlichkeit zu“, sagt er. Trotzdem rät Mühlbauer zu „vorsichtigem Umgang“. Es gebe kein ideales Schmerzmittel. Eine guter ärztlicher Rat orientiere sich daher immer an den individuellen Gegebenheiten eines Patienten. Bei Grippemitteln, die pro Einheit rund 150 bis 250 mg Paracetamol enthalten, „ist die Gefahr einer Überdosierung noch nicht einmal am Horizont sichtbar“, meint Mühlbauer.

„Tatsächlich handelt es sich aber um ein wirkungsvolles und wertvolles Schmerzmittel.“
Prof. Dr. Bernd Mühlbauer

Auf Paracetamol-Packungen die in deutschen Apotheken rezeptfrei erhältlich sind, deuten weder Sicherheitswarnungen noch Signalfarben auf die Gefahren einer Überdosierung hin. In den USA dagegen hat der Tylenol®-Hersteller McNeil jetzt einen Schritt zum Schutz der Patienten vor Schäden durch versehentliche Überdosierung getan: Tylenol®-Fläschchen, die in den USA verkauft werden, erhalten ab Oktober auf der Verschlusskappe einen roten Warnhinweis zu den möglicherweise fatalen Folgen einer Überdosierung. Das gab der Mutterkonzern Johnson & Johnson im August bekannt.

Gleichzeitig wehrt sich das Unternehmen momentan gegen mehr als 85 Klagen zu Leberschäden und Todesfällen durch Tylenol®. Zudem erarbeitet die FDA aktuell die lang ersehnten Sicherheitsvorschläge, die den Hersteller eines Schmerzmittels, das täglich von Millionen Amerikanern geschluckt wird, empfindlich treffen könnte.

Referenzen

Referenzen

  1. Gerth J, et al: ProPublica 20. Sept. 2013
    http://www.propublica.org/article/tylenol-mcneil-fda-use-only-as-directed
  2. Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit (BfArM): Ergebnisprotokoll der 69. Sitzung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht vom 26. Juni 2012
    BrArM: Paracetamol: Ergebnisprotokoll der 69. Sitzung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht. 26.06.2012
  3. Paracetamol-Intoxikationen. DAZ, 2012 - Ausgabe 1, Arzneimittel und Therapie

Autoren und Interessenkonflikte

Julia Rommelfanger
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Brune K, Mühlbauer B: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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