In den USA fast schon Routine – die Operation bei Adipositas auch schon für Kinder?

Petra Plaum | 23. Oktober 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Berlin – Immer mehr Jugendliche, manchmal sogar schon Kinder werden ihrer extremen Adipositas wegen operiert, damit sie an Gewicht verlieren. In Deutschland sind es noch Einzelfälle; hier traf es laut Adipositas-Register in den Jahren 2005 bis 2010 nur 51 Jugendliche unter 18, ferner 345 junge Erwachsene unter 21.


Prof. Dr. Martin Wabitsch

Doch: „Die Zahlen sind im Verlauf der fünf Jahre gestiegen“, sagt Prof. Dr. Martin Wabitsch, Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Man kann heute davon ausgehen, dass pro Jahr in Deutschland mindestens 10 Patienten unter 18 Jahre und mindestens 70 Patienten unter 21 Jahre mit extremer Adipositas eine bariatrisch-chirurgische Maßnahme erhalten.“ Allerdings: „Die Dunkelziffer, also die Patienten, die nicht im Register eingetragen sind, schätze ich auf etwa 50%“.

Wie Prof. Dr. Thomas Horbach, Chefarzt der Chirurgie am Stadtkrankenhaus Schwabach, einem der 6 bundesweiten Adipositas-Referenzzentren in Deutschland, gegenüber Medscape Deutschland erklärt, sollten diese Patienten ihr Wachstum vollendet haben, besser noch volljährig sein. Doch es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel jene 13-Jährige mit terminalem Nierenversagen, die aufgrund ihres extremen Übergewichts nicht dialysiert oder transplantiert werden konnte: „Hätten wir sie nicht operiert, hätte sie nicht überlebt." Nach der bariatrischen Operation verlor sie an Gewicht und konnte später eine Spenderniere erhalten.

Auf dem 4. Weltkinderchirurgenkongress der World Federation of Associations of Pediatric Surgeons (WOFAPS) in Berlin zeigte sich, wie stark das Thema ‚Adipositaschirurgie bei Kindern und Jugendlichen‘ offensichtlich polarisiert [1]: „Wir hören immer von den Kostenträgern: ‚Ihr wollt ja nur operieren‘“, klagt Horbach. Nach seiner Ansicht handhaben die Krankenkassen die Genehmigungen für einen bariatrischen Eingriff nicht nur bei Minderjährigen, sondern auch bei Erwachsenen, sehr restriktiv.

Dabei sei Deutschland von Ländern wie Saudi-Arabien, wo diesen Sommer ein zweijähriger, extrem adipöser Junge eine Sleeve-Gastrektomie erhielt, weit entfernt. Jeder verantwortungsvolle Chirurg müsse genau prüfen, ob bei Kindern mit 10, 12 oder 14 Jahren, die über 100 Kilo wiegen, der Wunsch nach einer Operation tatsächlich dem Willen des Kindes entspreche, oder dies eher von den Eltern ausgehe. „Technisch ist bei Kindern ein Magenband problemlos möglich, aber wir raten nicht dazu, es sei denn, Komorbiditäten wie ein schwerer Typ-2-Diabetes machen einen früheren Eingriff nötig“, erläutert Horbach.  

In den USA werden immer mehr Kinder wegen Adipositas operiert


Prof. Dr. Thomas H. Inge

Kosten und Nutzen für die Patienten würden sorgfältig gegeneinander abgewogen. Sogar in den USA, einem Land, in dem 4 bis 6% aller Minderjährigen extrem adipös sind, werde keinesfalls leichtfertig operiert, betonte der chirurgische Leiter des Surgical Weight Loss Program for Teens am Cincinnati Children´s Hospital Medical Center, Prof. Dr. Thomas H. Inge, auf dem Kongress in Berlin: „Wir glauben fest daran, dass wir unsere Patienten und ihre Eltern schulen müssen.“ Das gelte nicht nur in Bezug auf die Operation selbst und die notwendige Anpassung des Lebensstils  und der Ernährung. Wichtig sei auch, die Bedeutung körperlicher Aktivität klarzumachen, damit das Ganze ein langanhaltender Erfolg werde. Dies sei Teil eines umfassenden Behandlungsprogramms. „Die Chirurgie allein für sich wäre dazu verdammt, zu scheitern. Sie glückt nur, wenn die ganze Familie sich dauerhaft einsetzt“, betonte der Chirurg.

Nach 12 Jahren einschlägiger Erfahrung mit minderjährigen Patienten und bislang 219 derartigen Eingriffen kann Inge viel Fachwissen mit deutschen Kollegen teilen. Kürzlich erschien ein umfassendes Scientific Statement der American Heart Association (AHA) zum Thema, in dem er und viele weitere Kollegen ihre Erfahrungen einbrachten [2].

In den USA sind seit dem Jahr 2000 mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche mit extremem Übergewicht operiert worden. Sie erhielten ein Magenband, eine Sleeve-Gastrektomie oder einen Roux-en-Y-Bypass. Die Zahl der Eingriffe steigt stetig, wenn auch langsam. Zurzeit gehen Experten von etwa 1.000 Eingriffen pro Jahr in den USA aus.  

Die Frage nach den Nebenwirkungen des Eingriffs lässt sich nur aus Daten von Erwachsenen ableiten. Untersuchungen aus 40 Jahren bariatrischer Chirurgie zeugen von postoperativen Komplikationen, wie sie auch bei anderen Eingriffen möglich sind, etwa kardiorespiratorischen Nebenwirkungen und Thrombosen. Speziell nach Roux-en-Y-Bypass-Operationen kann es überdies zu schweren Vitamin D-Mangelzuständen, Osteopenie und Osteoporose, Spontanfrakturen, Vitamin-, Eisen- und Eiweißmangel kommen, wie eine deutsche Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) mahnt [3].

„Eine schwedische Studie hat belegt,
dass für 99 Prozent der extrem adipösen Teenager eine Verhaltenstherapie kein effizienter
Weg ist, Gewicht
zu verlieren.“
Prof. Dr. Thomas H. Inge

Genauere Erkenntnisse erhofft man sich deshalb von den Ergebnissen einer Langzeitstudie mit jungen Patienten, die Inge und sein Team gerade beenden: Die Studie mit dem Namen Follow up of Adolescent Bariatric Surgery soll Auskunft zur Nachhaltigkeit der OP geben. Der Gewichtsverlust betrage 7 bis 8 Jahre nach den Eingriffen noch immer durchschnittlich 25%, berichtet Inge. Zudem würden langfristig Daten über den Vitamin- und Mineralstatus der Heranwachsenden gesammelt. Denn mit der Compliance ist es nicht immer gut bestellt, berichtet der Chirurg: „Die Compliance bei einem Teenager kann schon darin bestehen, dass er einige Mal im Monat seine Nahrungsergänzungsmittel nimmt, die er eigentlich täglich nehmen sollte.“ Umso zufriedener zeigt sich Inge, dass es trotzdem unter seinen Patienten in den Jahren nach der Operation „selten zu Bluttransfusionen kam. Und wir wissen von keinerlei Frakturen aufgrund eines Mangels an Kalzium oder brüchiger Knochen.“

Bisher habe er auch noch niemals einen Patienten durch eine solche Operation verloren, „auch, weil junge Menschen zwar ähnliche Komplikationen wie Erwachsene entwickeln können, sich im Falle einer Komplikation aber besser erholen“. Er berichtet von 3 Todesfällen, in der Zeit nach dem Eingriff: Ein Patient starb 9 Monate später nach einer Infektion mit Clostridium difficile; 2 weitere kamen Jahre nach der Operation aufgrund von Drogenmissbrauch zu Tode.

Arbeitsfähig und fruchtbar dank der Chirurgie?

In den meisten Fällen entwickelten die Patienten sich gut. Kurz nach der Operation sei der Body-Mass-Index (BMI) um 25% bis 35% vermindert. Dennoch: Von einem Normal-BMI mit 20 bis 25 kg/m² seien die Patienten in der Regel noch weit entfernt. „Das liegt daran, dass wir die meisten von ihnen erst ab einem BMI von über 50 sehen“. Aber obwohl die jungen Menschen immer noch übergewichtig seien, profitiere der Metabolismus.

So gibt es Hinweise, dass die bariatrische Chirurgie bei Jugendlichen mit extremem Übergewicht Komorbiditäten sogar besser als bei Erwachsenen reduziert, wie eine Studie mit Magenbandpatienten nahelegt [4].  Auch Inges Erfahrungen bestätigen dies: „Ein Typ-2-Diabetes wird besser oder verschwindet ganz. Reflux und Schlafapnoe gehen zurück. Nicht zu vergessen die Verminderung psychischer Beschwerden – es ist eine grausame Welt, und dicke Jugendliche leiden in der Schule, bekommen keinen Job. Auch diese Zusammenhänge erforschen wir gerade genauer.“

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Referenzen

  1. 4th World Congress of the World Federation of Associations of Pediatric Surgeons (WOFAPS) 14. - 17. Oktober 2013, Berlin
    http://www.wofaps2013.com/
  2. Kelly AS, et al: Circulation (online) 9. September 2013
    http://dx.doi.org/10.1161/CIR.0b013e3182a5cfb3
  3. Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter (AGA) (Hg.): Monatsschr Kinderheilkd 2012;160(11):1123–1128
    http://dx.doi.org/10.1007/s00112-012-2749-7
  4. Zitsman JL, et al: Surg Obes Relat Dis 2011;7(6):720-726
    http://dx.doi.org/10.1016/j.soard.2011.01.042
  5. Danielsson P, et al: Arch Pediatr Adolesc Med 2012;166(12):1103-1108
    http://dx.doi.org/10.1001/2013.jamapediatrics.319
  6. Kompetenznetz Adipositas (Hg): Präsentation der JA-Studie (online), abgerufen 11 Oktober 2013
    http://www.kompetenznetz-adipositas.de/menue/kompetenznetz/konsortien/jugendliche-mit-extremer-adipositas.html

Autoren und Interessenkonflikte

Petra Plaum
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Inge TH: Research Grant durch Ethicon Endoscopy, Studienförderung durch National Institutes of Health der USA

Wabitsch M: Die JA-Studie erhält eine Studienförderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung

Horbach, T: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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