Hamburg – Die Situation ist prekär: Akut psychisch Erkrankte warten hierzulande derzeit mehr als 3 Monate auf einen Facharzttermin oder Psychotherapieplatz. Jeden Monat fragen etwa 18 Patienten nach einer psychotherapeutischen Behandlung, doch ambulante Psychotherapeuten bieten lediglich 4 Erstgespräche im Monat an. Die Gründe wie die Folgen sind vielschichtig und erfordern neue Versorgungsmodelle. Eine Möglichkeit ist der „Facharztvertrag Psychiatrie/Neurologie/Psychotherapie nach § 73c SGB V“ in Baden-Württemberg, kurz PNP-Vertrag.
„Das ist unser Weg aus den Problemfeldern – ein kooperativer Selektivvertrag zwischen Krankenkassen und Ärzteverbänden“, erklärte Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, auf dem 9. Gesundheitswirtschaftskongress Ende September in Hamburg [1]. Er bezog damit Position „gegen den Regelversorgungs-Wirrwarr durch zunehmend zentralistische Strukturen aus Berlin.“
Seit Juli letzten Jahres bietet dieses Konzept mehr Freiheiten und die Zeit, allen Versicherten, die sich in das seit 2008 bestehende Haus- und Facharztprogramm ihrer jeweiligen Krankenkasse eingeschrieben haben, das zu bieten, was sie für eine gute Versorgung brauchen: einen zeitnahen Therapiezugang spätestens nach 2 Wochen – in Notfällen binnen 2 Tagen; eine strukturierte Diagnostik; ein flexibles, breites, individuell angepasstes psychotherapeutisches Angebot. Das Ganze ist evidenzbasiert, Leitlinien-orientiert, flächendeckend. Inzwischen nehmen daran 451 Therapeuten, Fachärzten und deren rund 150 Mitarbeitern (Stand: 24.9.2013) freiwillig teil.
Das angepeilte Quorum von 450 Teilnehmern zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung wurde somit rasch erreicht. Denn Basis sind attraktive Vergütungsstrukturen in Form einer allgemeinen Grundversorgung (bei Diagnostik, Beratung, Therapie, Befundbericht) und einer pauschalierten Vergütungssystematik zu definierten Krankheitsbildern, außerdem Struktur- und Qualitätszuschläge,
Einzel-, Auftrags- und Vertretungsleistungen. Jede erbrachte Leistung wird vergütet. Auf der anderen Seite wird Qualität z.B. durch regelmäßige Fortbildungen abgefordert. „Das Motto lautet, gute Arbeit auch gut zu bezahlen “, so Hermann.
Psychische Krankheiten häufen sich um das 19. Lebensjahr
„Aus der Perspektive des Versorgungsforschenden kann ich sagen: Wir verpassen eine Menge, wenn wir nicht frühzeitig intervenieren“, kommentierte Prof. Dr. Matthias Augustin, Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die hohe Inzidenz und Prävalenz bei psychischen Erkrankungen, die meist in der Kindheit und frühen Jugend beginnen. „Hauptmanifestationsalter ist bis auf die Demenz im Median das 19. Lebensjahr, 75 Prozent aller Erkrankungen haben sich bis zum 24. Lebensjahr manifestiert.“
Nicht nur in Deutschland und in allen Altersgruppen, auch auf EU-Ebene ist derzeit etwa jeder Dritte von zumindest einer eindeutig diagnostizierten psychischen Erkrankung betroffen, mit steigender Tendenz. Im ICD-10 sind hiermit vor allem die Kapitel F00-F99 gemeint, diese umfassen „Organische, einschließlich symptomatische psychische Störungen“ (Beispiel: Demenz) ebenso wie „Affektive Störungen“ (Beispiel: Depressionen), „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (Beispiel: Angststörungen) „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ (Beispiel: Narzisstische Persönlichkeitsstörungen) oder „Intelligenzstörungen“ und „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (Beispiel: ADHS).
Rund 61% der psychischen Erkrankungen nehmen einen episodischen und 39% einen chronischen Verlauf, über 50% verursachen die meisten Lebensjahre mit Behinderung (disability-adjusted life years, DALY). Das gilt insbesondere auch für die häufigsten psychischen Erkrankungen, die unipolare bzw. Major Depression und Angststörungen. „Entwicklungen, die bei früherem Therapiebeginn vermeidbar wären, stattdessen sind eine fehlende Früherkennung und Frühintervention negative Prädiktoren für den Gesamtlauf der Erkrankungen, der in eine enorme gesundheitsökonomische Belastung mündet“, betonte Augustin.
Psychiatrische Diagnosen seien neben Herz-Kreislauf- und gastrointestinalen Erkrankungen die Kostentreiber des Systems, da die Gesamtkosten im hohen dreistelligen Milliardenbereich für die direkten (Krankenhaustage, Medikamente, Psychotherapiesitzungen), indirekten (Arbeitsunfähigkeitstage, Frühberentung, frühzeitiger Tod) und sozialen Kosten (Heilhilfsmittel, beschützte Wohngruppen, Werkstätten) liegen, aber auch für Kosten durch Gerichtsverfahren, Polizeieinsatz, Inhaftierung.
Durchschnittliche Behandlungsverzögerung: 6,8 Jahre
Bis zum Behandlungsbeginn vergeht viel Zeit, vor allem bei Patienten mit einer Major Depression und/oder Angststörung – „all das, was gern und sehr salopp unter den Begriffen Burnout und Stresserkrankungen zusammengefasst wird“, so Augustin. Bei Depressiven sind es rund 8 Jahre, bei Angstpatienten stolze 14 Jahre. Das sind Jahre, die den Schnitt für die durchschnittliche Behandlungsverzögerung bei allen psychiatrischen Erkrankungen auf 6,8 Jahre in die Höhe treiben, auch wenn etwa die Behandlung z. B. einer Anorexia nervosa nach ca. 1,8 Jahren einsetzt.
Doch während diese Diagnose offensichtlich ist, ist es die der Depression nicht. Sie maskiert sich gern, auch hinter einer somatischen Symptomatik. „Jeder 5. Chroniker ist depressiv“, hieß es auf der DEGAM-Jahrestagung Mitte September in München [2]. Das schlägt sich jedoch nicht in der Behandlungsquote nieder, nur ein Viertel kommt in ein Erstgespräch. Gründe dafür werden im G-BA-Abschlussbericht 2011 genannt. Im Rahmen der Regelversorgung
- findet keine Leitlinien-orientierte Versorgung statt, wegen geringer Kenntnis in Diagnostik und Therapie bei Hausärzten;
- gibt es Hinweise auf Defizite bei „früher“, „rechtzeitiger“ und „korrekter“ Erkennung und Therapie depressiver Störungen;
- führt eine segmentierte haus- bzw. fachärztliche Versorgung zu inadäquaten und verzögerten Zuweisungen sowie zu Kooperations- und Kommunkationsdefiziten;
- sorgen fehlende Zeit für Beratung, lange Wartezeiten, mangelnde Therapieangebote und unzureichende wohnortnahe Versorgung für einen deutlichen Anstieg unnötiger und belastender Krankenhauseinweisungen.
Regelversorgung vom Kopf auf die Füße stellen
„Ein ausgesprochen unerfreuliches Resultat der derzeitigen Versorgung“, konstatierte der Arzt und Gesundheitsökonom Augustin knapp und zitierte zusätzlich den DAK-Gesundheitsreport 2013 und das Statistische Bundesamt 2012, wonach gerade die unipolare Depression und die Angststörungen die höchsten Anstiege sowohl bei der Arbeitsunfähigkeit (AU) als auch bei der Erwerbsunfähigkeit zeigen.
Während sich 1997 jeder 50. Erwerbstätige wegen psychischer Probleme krank meldete, war es 2012 jeder 22. Im Jahr 2011 wurden bundesweit 59,2 Millionen psychisch bedingte AU-Tage registriert, von Frauen häufiger als von Männern (30,1% vs. 23,4%). Bei den Frühberentungen stieg der Anteil der Personen mit psychischen Erkrankungen in den letzten 18 Jahren von 15,4% auf 41,0%, das Durchschnittsalter liegt bei 48,3 Jahren.
Wie geht man damit um? „Das treibt uns seit langem um und verlangt nach Antworten“, sagte der GKV-Funktionär Hermann. Zumal die Versicherten all diese Hintergründe überhaupt nicht interessieren würden: Die wollen eine schnelle, sichere und bessere Versorgung.
„Wenn eine Krankenkasse eine strukturbildende Größe im Gesundheitswesen ist, und wenn es andererseits Regionen wie bei uns im Ländle gibt, in denen annähernd 60 Prozent der Bevölkerung gesetzlich versichert sind, dann muss diese Kasse sich verantwortlich dafür fühlen, gemeinsam mit den Partnern im ärztlichen und psychotherapeutischen Bereich Versorgung zu gestalten“, verdeutlichte Hermann. „Sie müssen Anreize bieten, das geht nur jenseits dieser Nummerngeschichte des EBM und von Dingen, die mit Versorgung wenig zu tun haben. Sie müssen im Kern die Probleme der Regelversorgung vom Kopf auf die Füße stellen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, da eine Vergütung auch in der Regelversorgung für viele interessant ist.“
Positive Resultate bei den ersten Abrechnungen
Inzwischen liegen allerdings die ersten Abrechnungsergebnisse des 1. Quartals 2013 vor. Die teilnehmenden Ärzte können sich freuen: Im Bereich Psychiatrie betrugen die durchschnittlichen Fallwerte 127 Euro statt den bisher 82,44 Euro in der Regelversorgung. Die Mediziner erhielten folglich bis zu 50% mehr als ihre Kollegen in der Normalversorgung. Im Bereich Neurologie betrugen die Fallwerte 95 Euro statt 69,65 Euro (>35%) und im Bereich Nervenheilkunde 105 Euro statt 74,90 Euro (>40%).
Nicht nur diese Erfahrung gibt den Initiatoren des PNP-Vertrages Recht. Man geht den Weg jetzt seit 5 Jahren, die Versorgung in Baden Württemberg in die eigenen Hände zu nehmen und die Möglichkeiten mit den Selektivverträgen maximal auszuschöpfen. Begonnen hat alles mit dem Vollversorgungsvertrag in der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV), der durchweg gut bewertet wird, wie eine auf der letzten DEGAM-Jahrestagung präsentierte Querschnittstudie mit 1.000 teilnehmenden Hausärzten gezeigt hat [3]. Allerdings wird die Leitlinien-gestützte Behandlung nur ein Stück weit als sinnvoll erachtet.
„Darauf aufbauend sind wir dabei, mit den Berufsverbänden bis 2015 eine umfassende ambulante Vollversorgung auszubauen“, schloss Hermann. „Mehr geht nicht, aber vielleicht schafft die neue Bundesregierung ja die Möglichkeit, dass wir auch in den stationären Bereich dürfen.“