München – „Es sieht ein bisschen so aus, als seien die Heilpraktiker das Last Resort jener Patienten, die sich bei ihren Ärzten nicht gut aufgehoben fühlen.“ Auf diesen quasi gemeinsamen Nenner brachte Dr. Katharina Glassen die ersten Ergebnisse von gleich 2 Studien, deren Daten Glassen und Katharina Kraus, beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg, gerade auswerten.
Untersucht wird erstens, wo die Komplementärmedizin in der Primärversorgung von Patienten bevorzugt in Anspruch wird, ob beim Hausarzt oder beim Heilpraktiker, und zweitens, welche Patienten mit welchen Beschwerden den einen oder anderen Versorger aufsuchen.
als auch die der Heilpraktiker hat
sich in den letzten
15 Jahren mehr als verdreifacht.“
Diese bislang nicht erforschten Ansätze wurden anlässlich der DEGAM-Jahrestagung in der Session „Komplementärmedizin“ zur Diskussion gestellt [1,2]. Aus gutem Grund: Denn das Interesse an komplementären Therapien wie Phyto- und Chirotherapie, Osteo- und Homöopathie oder Akupunktur ist in der deutschen Bevölkerung ungebrochen hoch und erreicht derzeit ca. 70%. Selbst in der Onkologie wenden inzwischen 4 von 5 Patienten entsprechende Verfahren an [2].
Steigende Nachfrage nach Komplementärmedizin bei Ärzten
Seitens der Ärzteschaft besteht vor allem beim Nachwuchs großes Interesse an alternativen Heilverfahren. Das zeigt sich nicht nur in der starken Nachfrage nach entsprechenden Wahlkursen bei Studierenden, z. B. zur Traditionellen Chinesischen Medizin [3]. Auch die Zahl an den Zusatzbezeichnungen Manuelle Medizin, Naturheilverfahren, Homöopathie, Akupunktur steigt stetig.
„Sowohl die Anzahl der Allgemeinärzte mit entsprechender Zusatzbezeichnung als auch die der Heilpraktiker hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdreifacht“, so Glassen. Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes waren 2011 rund 35.000 Heilpraktiker in Deutschland registriert – nur gut 5.000 weniger als es „Allgemeinärzte der vertragsärztlichen Versorgung“ gab.
Hinzu kommt als deutsche Besonderheit, dass neben den Ärzten auch die Heilpraktiker direkt in die Primärversorgung involviert sind. Eine Zusammenarbeit mit ihnen ist Ärzten qua Berufsordnung allerdings untersagt – nicht zuletzt auch deshalb, weil es bisher keine wissenschaftliche Arbeit gibt, die sich der qualitativen Arbeit von Heilpraktikern widmet.
„Jede Hausfrau mit Hauptschulabschluss und ohne weitere Qualifikation kann in diesem Land Heilpraktiker werden, das passt nicht zum Ausbildungsgang von Ärzten, die jahrelang studieren“, brachte eine Kollegin aus dem Auditorium das wohl größte Ressentiment der Ärzteschaft zum Ausdruck, das sich auch in den ersten Highlights der sogenannten qualitativen Versorgungsforschungsstudie spiegelt, deren Erstautorin Glassen ist.
„Und dann hat er geschimpft“
Glassen und Kollegen sind bei letztlich 30 Patienten im Alter zwischen 20 und 83 Jahren (median: 53), 30 Heilpraktikern (w:19, m:11) und 31 Ärzten (w:16, m:15) ähnlichen Alters (52-55) und mit ähnlicher Berufserfahrung in Jahren (20-25) der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert die Komplementärmedizin und deren Inanspruchnahme für Patienten, Ärzte und Heilpraktiker hat und welche Erfahrungen jeweils gemacht werden. Eine weitere Frage gilt den Umständen, unter denen eine Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Heilpraktikern aus deren Sicht vorstellbar wäre und wie diese aussehen könnte.
Beispielsweise antworteten auf die Frage „Hat Ihr Arzt Ihnen schon einmal empfohlen, zu einem Heilpraktiker zu gehen?“ 29 der 30 Patienten mit klarem „Nein“. Die Begründungen lauteten beispielswiese: „Halten HP für inkompetent“, „Da muss, glaub´ ich, erst die Welt einstürzen, bevor ein Arzt das macht“ oder „Die sind gefangen in ihrer Schulmedizin“.
in diesem Land Heilpraktiker werden.“
Manche Patienten teilen ihrem Arzt auch lieber nicht mit, dass sie auch zu einem Heilpraktiker gehen: „Wenn ich so meine Erfahrungen betrachte, dann muss ich sagen: Ich erzähle bestimmten Ärzten ganz sicher nicht von meiner Homöopathin. Ganz sicher nicht.“ Oder: „Der würde gleich sagen – Das Geld können Sie sparen. Das bringt eh nichts. – Der macht mir auch Angst.“ Eine Patientin, die sich getraut hat, berichtete: „… und dann hat er geschimpft.“
Insgesamt wünschten sich die Patienten nicht nur mehr Offenheit der Ärzte, sondern auch mehr Kooperation. Allerdings wissen sie in aller Regel nicht, dass eine Kooperation verboten ist. Am liebsten hätten sie alles aus einer Hand.
„Empathische Verhaltenstendenz“ eher beim Heilpraktiker
Ärzte wiederum reagierten laut Glassen teilweise vehement, sogar „erschreckend“ ablehnend auf Heilpraktiker, nicht zuletzt auch wegen fehlender Transparenz, nach dem Motto: „Ich weiß gar nicht, was die machen.“ Doch ebenso gut ließe sich fragen: „Was macht eigentlich ein Hausarzt alles?“ Denn so klar ist das auch nicht jedem.
Die befragten Heilpraktiker schließlich wünschten sich mehr Anerkennung. Immerhin nehmen sie für Patienten teil- und wahlweise die Funktion von Hausärzten oder Spezialisten ein, letztlich aber sind sie in das medizinische Versorgungssystem nicht eingebunden.
In ihrem Fazit hielt Glassen deshalb eine Weiterentwicklung der Strukturen in der so versorgungsrelevanten Komplementärmedizin für dringend erforderlich – in Ausbildung und Patientensicherheit ebenso wie bei der Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen.
Parallelen zu den Anforderungen an die Allgemeinmedizin sind durchaus erkennbar. Unterschiede gibt es nach wie vor bei der kommunikativen Kompetenz und „empathischen Verhaltenstendenz“: Empathie, Gespräch und Zeit gelten als ausschlaggebend dafür, dass sich vor allem Patienten mit langwierigen Beschwerden bei einem Heilpraktiker wohler fühlen als beim Schulmediziner.
„Das gilt vor allem für Patienten mit muskulo-skelettalen und psychogenen Problemen, die länger als fünf Jahre andauern – über 40% gehen zum Heilpraktiker. Zum Hausarzt gehen Patienten mit akuten, vor allem respiratorischen Beschwerden, Patienten mit mehr als fünf chronischen Erkrankungen und moribunde Patienten“, nannte Kraus die für sie und ihre Kollegen zentralen Ergebnisse ihrer Untersuchung zu Beschwerdenprofil und -dauer.
Weiblich, im besten Alter, gebildet und gesundheitsbewusst
Ansonsten unterscheiden sich die Beschwerdebilder der Patienten bei Hausarzt und Heilpraktiker wenig. Bei beiden machen Patienten mit gastrointestinalen, allgemeinen und unspezifischen, neurologischen, dermatologischen und anderen Beschwerden zwischen 6 bis 12% des Klientels aus – auch die Schweregradeinschätzung der Beschwerden ist ähnlich.
Das Team um Kraus hat sich außer mit Art und Grad der Beschwerden mit sozioökonomischen Faktoren, Gesundheitszustand und Lebensstil beschäftigt, und dazu insgesamt 600 Patienten aus 20 HP-Praxen und 40 hausärztlichen Praxen (10 Patienten pro Praxis) mit validierten Fragebögen während der normalen Sprechzeiten befragt. Demnach ist die klassische Heilpraktiker-Klientel weiblich, im Alter zwischen 40 und 50, hat mindestens Abitur, lebt primär im ländlichen und kleinstädtischen Umfeld und ist in sehr hohem Maße gesundheitsbewusst.
Die in beiden Studien gewonnenen Erkenntnisse sind nach Einschätzung der Autorinnen eine wertvolle Grundlage für weiterführende Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet und können als Basis für eine offene Diskussion genutzt werden.