Folgen von sexuellem Missbrauch – im Praxisalltag oft übersehen

Ute Eppinger | 10. Oktober 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Dresden – Mit den unterschiedlichen Folgen sexuellen Missbrauchs werden Urologen viel häufiger konfrontiert als vermutet. Wie sich ein Missbrauch im Praxisalltag erkennen lässt und wie Urologen die körperlichen Symptome behandeln können, diskutierten Experten auf dem 65. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie in Dresden. „Wir können eine ganze Menge dafür tun, dass es unseren Patienten besser geht“, formulierte Dr. Hermann J. Berberich, Urologe und Psychotherapeut aus Frankfurt, den Tenor der Sitzung „Psychosomatik/Sexualmedizin“ des Arbeitskreises Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin [1].

„Solche Patienten sind oft extrem scheu oder extrem offensiv bis aggressiv und mit-
unter auch ungepflegt. Ihr Verhalten ist häufig auffällig.“
Dr. Monika Leisse-Stankoweit

Die eine spezifische sexuelle Funktionsstörung, aus der sich sicher ableiten lässt, dass ein sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte stattgefunden hat, gibt es nicht. Die niedergelassene Urologin Dr. Monika Leisse-Stankoweit aus Münster präsentierte jedoch zahlreiche Beispiele für mögliche Symptome, die hellhörig machen sollten. So berichtete sie von einer 35 Jahre alten Frau mit Unterbauchschmerzen sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Die Frau war zudem aufgrund ihrer heftigen Anspannung praktisch nicht untersuchbar. Als ein weiteres Beispiel führte sie einen 22 Jahre alten Mann mit Hodenschmerzen, Panikattacken und Schweißausbrüchen an. „Man bekommt bei bestimmten Patienten ein Gefühl dafür, dass etwas nicht stimmt“, so Leisse-Stankoweit.

Die Urologin erklärte, dass nach sexuellem Missbrauch die Stresssituation unvollständig verarbeitet werde. Oft schlägt sich das in sensorischen Störungen nieder: „Da ist z.B. kein Gefühl für die Blasenentleerung und es finden sich große Restharnmengen.“

Auch die physische Erstarrung – zu Zeiten des Missbrauchs ein überlebenswichtiger Schutzreflex – kann anhalten und sich in starker muskulärer Spannung manifestieren. Dadurch kann es zu Harnverhalt, Enuresis nocturna, Reizblase und Inkontinenz kommen. „Häufig ausgeprägt ist auch eine Verspannungssymptomatik des kleinen Beckens, die ein Urethralsyndrom, Beckenbodenmyalgie und Prostatitissyndrom hervorrufen kann“. Zum Teil kommt es auch zu Algurie oder Fluor und Schleimhautempfindlichkeiten.

Die Expertin ermunterte ihre Zuhörer dazu, dem eigenen Gefühl zu trauen und genau zu beobachten: „Solche Patienten sind oft extrem scheu oder extrem offensiv bis aggressiv und mitunter zudem ungepflegt. Ihr Verhalten ist häufig auffällig.“ Die Diagnostik, beispielsweise die Zytoskopie, werde als übergriffig und oft als Re-Inszenierung des sexuellen Übergriffes empfunden.

Überaktive Blase als Folge sexuellen Missbrauchs

„Bei Opfern von sexuellem Missbrauch ist es am besten, wenn sie aktiv sind, selbst bestimmen und darüber immer mehr Kontrolle erlangen können.“
Dr. Ulrike Hohenfellner

Wie ein Urologe bei überaktiver Blase als Folge von sexuellem Missbrauch Patienten helfen kann, das stellte Dr. Ulrike Hohenfellner, niedergelassene Urologin aus Heidelberg, vor. Sie schilderte die Behandlung einer 37 Jahre alten Patientin, die seit zweieinhalb Jahren an rezidivierenden Blasenentzündungen, Blasensteinen und an ausgeprägter Pollakisurie litt und deshalb weniger als einen Liter täglich trank. Eine Hysterektomie, die wohl der Entlastung der Blase dienen sollte, hatte keine Besserung gebracht. Nach wie vor brauchte die Frau viele Einlagen, immer wieder wurde ihre Kleidung nass.

„Diese Patientin saß mir wie ein Kind gegenüber, sie verhielt sich auffällig und nicht wie 37“, berichtete Hohenfellner von deren erstem Besuch. Der erste Eindruck, den man von einem Patienten bekomme, sei wichtig, betonte sie. Beim zweiten Besuch habe die Patientin einen großen Teddybär bei sich gehabt und von ihrem Kinderwunsch gesprochen.

„Diagnostisch zeigte sich eine ausgeprägte Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie und eine obstruktive Blasenentleerungsstörung.“ Die Zytoskopie erbrachte eine proximale Harnröhrenstenose. „Auffällig war, dass die Patientin sich während der Untersuchung völlig apathisch verhielt, sie hat das abgespaltet“, berichtete Hohenfellner.

Wichtig sei, dass die urologische Therapie sofort einsetze und man den Patienten empathisch und wertschätzend erkläre, dass sich Selbstkontrolle und die Willkür-Relaxation des Sphinkters erlernen ließe. „Bei Opfern von sexuellem Missbrauch ist es am besten, wenn sie aktiv sind, selbst bestimmen und darüber immer mehr Kontrolle erlangen können“, betonte Hohenfellner.

Sie entschied sie sich bei der Patientin für eine Kombination aus Elektrostimulation und Beckenbodentraining, medikamentös flankiert mit Antibiotika und Anticholinergika. Nach 2 Monaten hatte sich die Pollakisurie deutlich gebessert (Intervalle von 2 Stunden), nach einem weiteren Monat war der Beckenboden entspannt und es blieb kein Restharn mehr zurück. Ermutigt durch die Fortschritte, begann die Patientin, sich beruflich umzuorientieren, was ihr Selbstwertgefühl stärkte und ihre urologische Symptomatik weiter verbesserte.

Missbrauch führt zu Veränderungen im Gehirn


Dr. Stefan Buntrock

Wie Dr. Dr. Stefan Buntrock, Chefarzt der Klinik am Kurpark in BadWildungen erklärte, waren nach einer Prävalenzuntersuchung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen aus dem Jahr 2011 7,4% der Mädchen und 1,5% der Jungen im Alter bis 16 Jahre von sexuellem Missbrauch betroffen. „Wer aufgrund der Traumatisierung eine sexuelle Funktionsstörung entwickelt, lässt sich aber nicht vorhersagen und hängt von den jeweiligen psychosozialen Kontextfaktoren ab“, betonte Buntrock.

Sexualität, so Buntrock, setze sich aus 3 Komponenten zusammen: Beziehung, Fortpflanzung und Lust. Psychosoziale Grundbedürfnisse der Beziehung sind dabei Nähe, Akzeptanz, Sicherheit und Geborgenheit. „Ein sexueller Missbrauch ist ein Generalangriff auf unsere psychosozialen Grundbedürfnisse“, betonte Buntrock. Als Folgen eines sexuellen Missbrauchs nannte Buntrock unter anderem einen verstärkten Hang zu Suizidalität und Depressionen, Angststörungen, emotionale und kognitive Störungen, Suchtverhalten, Beziehungs- und Persönlichkeitsprobleme.

„Wer aufgrund der Traumatisierung eine sexuelle Funktions-
störung entwickelt, lässt sich aber nicht vorhersagen und hängt von den jeweiligen psycho-
sozialen Kontext-
faktoren ab.“
Dr. Stefan Buntrock

„Die Traumatisierung bewirkt neuroanatomische Veränderungen“, so Buntrock. Wie Heim und Mitarbeiter jetzt in einer MRT-Untersuchung zeigen konnten, weisen missbrauchte Frauen kortikale Substanzverluste auf [2]. Je früher das traumatisierende Ereignis, desto ausgeprägter die Veränderung, bestätigte Buntrock. Betroffen vom Substanzverlust waren Gehirnbereiche, die für die Prozessverarbeitung des Erlebten verantwortlich sind und auch Bereiche des autobiografischen Erinnerungsvermögens – für das missbrauchte Kind ein wichtiger Schutzreflex, denn die Traumatisierungen werden so weniger intensiv erlebt.

Bei Erwachsenen aber entstehen daraus oft Probleme der sexuellen Funktion wie Störungen des sexuellen Verlangens, Orgasmusstörungen, Schmerzen und Störungen der Erregung, Ejaculatio praecox, sexuelle Aversionen. „In der Sexualanamnese gehört die Frage nach Missbrauch immer dazu“, so Buntrock. Diese solle so behutsam wie möglich geschehen und auch Kindheitserlebnisse des Patienten miteinbeziehen.

Die Opfer

„14.407 Kinder wurden 2010 Opfer von sexuellem Missbrauch, die überwiegende Mehrheit, nämlich 12.666, war zwischen 6 und 13 Jahre alt“, berichtete Dr. Dirk Rösing, niedergelassener Urologe, Sexualmediziner und Psychotherapeut in Demmin. Mädchen sind 3-5 mal häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen als Jungen.

„Man muss allerdings mit einer sehr hohen Dunkelziffer rechnen“, gab Rösing zu bedenken. Denn die genannten Fälle sind nur die, die zur Anzeige gebracht wurden und in der Kriminalstatistik als Straftaten verzeichnet sind.

Die Traumafolgen seien abhängig von der Intensität und Dauer des Missbrauchs und von der Nähe zum Täter. Je näher der Täter dem Opfer stehe, desto gravierender sei oft die Traumatisierung. Rösing warnte davor, sexuellen Missbrauch ausschließlich auf Geschlechtsverkehr zu reduzieren: „Schon der sexuell motivierte, vermeintlich harmlos wirkende Kuss oder das sexuell motivierte Auf-den-Schoß-setzen ist eine sexuelle Handlung, die nicht einvernehmlich stattfindet, weil ein Kind das nicht einordnen kann.“

Die Täter

Die Täter sind zu 93% mit dem Kind bekannt, zu 66% gehören sie der Familie oder deren nahem Umfeld an. Dabei liegt das Verhältnis Männer zu Frauen bei 9:1. Die Täter, die entsprechend ihrer sexuellen Präferenz Kinder bevorzugen, sind dabei eher in der Minderheit, erklärt Rösing. Denn nur 40% sind Pädophile, 60% der Täter sind Ersatzhandlungstäter

Die Zahl der Männer mit pädophiler Neigung werde in Deutschland auf 250 000 geschätzt. Belastbare Zahlen gehen von ca. 1% der männlichen Bevölkerung aus. „Die sexuelle Präferenz ist keine Wahlentscheidung!“ Wer pädophil sei, begehe nicht automatisch einen sexuellen Missbrauch: „Ein Übergriff passiert nicht einfach so.“

Vielen Pädophilen sei die Schädlichkeit ihrer sexuellen Präferenz für die Opfer durchaus bewusst. Wer therapeutische Hilfe suche, leide unter seinen Neigungen. Rösing betreut in Stralsund das im Frühjahr begonnene Präventionsprojekt „Kein Täter werden“, das – ausgehend von Berlin – in mehreren Städten läuft und pädophilen Männern dabei helfen soll, ihrer sexuellen Präferenz nicht nachzugeben. Die Therapie integriert psychotherapeutische Methoden mit Sexualmedizinischen Interventionen und der Urologe ist gefragt bei der Mitbetreuung bezüglich sexuell impulsdämpfender Medikamente, die den Testosteronspiegel senken.


Referenzen

Referenzen

  1. Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU), 65. Jahreskongress: 25. bis 28. September 2013, Dresden
    Sitzung: Psychosomatik/Sexualmedizin, 25. September 2013)
    http://www.dgu-kongress.de/
  2. Heim CM, et al: Am J Psychiatry. 2013; 170:616-623
    http://dx.doi.org/10.1176/appi.ajp.2013.12070950

Autoren und Interessenkonflikte

Ute Eppinger
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Berberich HJ, Leisse-Stankoweit M, Hohenfellner U, Buntrock S, Rösing D: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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