Dresden – Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist in Deutschland weitaus häufiger als gemeinhin angenommen, berichten Mitglieder des Deutschen ALS Netzwerkes auf dem 86. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Dresden [1]. Dazu wurden Daten sowohl des Schwäbischen als auch des Rheinland-Pfälzischen ALS-Registers vorgestellt. Beide Register erfassen zusammen etwa 12,6 Millionen Einwohner und sind seit 2010 bzw. 2009 aktiv [2, 3]. Rechnet man die ermittelten Zahlen auf die Gesamtbevölkerung hoch, so muss man von 6.000 bis 7.000 ALS-Patienten in Deutschland ausgehen. Jährlich kommen etwa 2.000 hinzu.
„Das Lebenszeitrisiko beträgt etwa 1:400“, so Prof. Dr. Albert C. Ludolph, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie, Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm, der zusammen mit Prof. Dr. Michael Sendtner vom Institut für Klinische Neurobiologie der Universität Würzburg den Vorsitz der Veranstaltung „Das Deutsche ALS Netzwerk – Neues aus Klinik und translationaler Forschung“ übernommen hatte.
„Das Lebenszeitrisiko für die ALS ist somit kaum niedriger als bei der Multiplen Sklerose“, bemerkte Ludolph. Wegen der kurzen Lebenserwartung nach Ausbruch der Krankheit von durchschnittlich nur 3 Jahren erscheine die ALS jedoch als seltene Krankheit. Die kurze Überlebenszeit sei wohl auch ein Grund dafür, dass die ALS von der pharmazeutischen Industrie vernachlässigt werde, beklagte der Neurologe.
Dennoch gibt es auch Grund zum Optimismus: Den formalen Ablauf der ALS verstehen die Wissenschaftler nun ähnlich gut wie den der Alzheimer- oder Parkinson-Krankheit. Alle 3 Leiden werden durch die Aggregation spezifischer Proteine angetrieben, die sich in einem mehrstufigen Prozess und nach einem charakteristischen Muster im Gehirn ausbreiten.
Wesentliche Beiträge zur ALS-Forschung kommen aus Deutschland
An der Aufklärung waren mehrere deutsche Forscher maßgeblich beteiligt: der Ulmer Neuroanatom Prof. Dr. Heiko Braak, Prof. Dr. Johannes Brettschneider, Oberarzt an der Neurologischen Klinik in Ulm, und Prof. Dr. Manuela Neumann, die heute Ärztliche Direktorin der Abteilung Neuropathologie an der Universitätsklinik Tübingen ist.
Gemeinsam fanden sie heraus, dass die ALS in der Hirnrinde beginnt und sich in 4 Stadien einteilen lässt. In mindestens 95% aller Fälle finden sich Ablagerungen des Proteins pTDP-43, wie Neumann in Dresden berichtete. Es ist an der Verarbeitung, dem Transport und der Stabilisierung von Boten-RNA beteiligt und findet sich normalerweise ubiquitär im Zellkern. Bei der ALS sammelt es sich jedoch im Zellplasma von Neuronen an.
In einer Studie, die Brettschneider als Erstautor in Dresden präsentierte, hat man nun Autopsie-Material von 76 ALS-Patienten immunhistochemisch untersucht und anhand der Menge von pTDP-43 mehrere Stadien der Ausbreitung unterscheiden können [4]:
- Zunächst entstehen demnach Läsionen im agranulären Motorkortex, den Hirnnerven-Kernen XII – X, VII und V, sowie den Alpha-Motoneuronen des Rückenmarks (Stadium I).
- Mit zunehmender Menge an Ablagerungen wird unter anderem der präfrontale Kortex in Mitleidenschaft gezogen (Stadium II).
- In Stadium III erfasst die pTDP-43-Pathologie zusätzlich den postzentralen Neokortex sowie die Neuronen des Striatums.
- Stadium IV schließlich betrifft die anteromedialen Teile des Schläfenlappens einschließlich des Hippocampus.
„Die pTDP-43-Pathologie verbreitet sich bei der ALS in einem sequenziellen Muster, das in vier Stadien eingeteilt werden kann“, fasste Brettscheider die Studie zusammen. Dies sei konsistent mit der Hypothese, dass die ALS sich entlang axonaler Pfade ausbreitet, fügte der Forscher hinzu.
Die Beteiligung des Frontalhirns und des Hippocampus lässt erwarten, dass bei der ALS nicht nur Muskellähmungen auftreten, sondern auch kognitive Defizite. Tatsächlich zählen auch Verhaltensänderungen und Gedächtnisprobleme zu den – oft übersehenen – Symptomen dieser Krankheit, wie PD Dr. Johannnes Prudlo, Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Universität Rostock, ausführte.
„Es hat sich viel getan in den letzten Jahren“, bilanzierte Ludolph, der viele seiner Forscherkollegen als „Matchmaker“ zusammen gebracht hat. „Aus einer reinen Erkrankung der Motorik ist auch durch unsere Befunde eine Erkrankung vieler Hirnsysteme geworden, die eine sequenziellen Verlauf hat“, bekräftigte Ludolph. „Das impliziert auch, dass man diese Krankheit behandeln könnte, wenn es gelänge, die Sequenz der Ereignisse zu stoppen.“