„Nicht dünner, aber glücklicher“ – Bescheidene Therapieziele bei Kindern mit Adipositas

Petra Plaum | 24. September 2013

Autoren und Interessenkonflikte


Dr. Johannes Oepen

Düsseldorf – Der Kampf gegen Adipositas bei Kindern und Jugendlichen bleibt schwierig und hat keine Erfolgsgarantie, wie auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) deutlich wurde, die parallel zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in Düsseldorf stattfand. „Manchmal müssen wir zufrieden sein, wenn ein Kind oder Jugendlicher nach der Therapie zwar noch immer adipös, doch gesünder und seelisch stärker ist“, betonte Dr. Johannes Oepen, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Chefarzt des Viktoriastifts Bad Kreuznach [1].

Einfach weniger zu essen, ist für Betroffene nämlich keine Lösung. Nicht nur, weil – wie Oepen und sein Team selbst feststellen mussten – bei noch so gut ausbalancierten Reduktionsdiäten plus Bewegungsprogramm nicht nur Fettgewebe, sondern auch Muskeln abgebaut werden, sodass gerade bei Kindern und Jugendlichen sehr behutsam vorzugehen ist. Sondern auch, weil ganz unterschiedliche Faktoren zusammenkommen, die Kinder und Jugendliche dick werden und bleiben lassen [2].

„Manchmal müssen wir zufrieden sein, wenn ein Kind oder Jugendlicher nach der Therapie zwar noch immer adipös, doch gesünder und seelisch stärker ist.“
Dr. Johannes Oepen

Wissenschaftler sind sich noch immer uneins, wie groß der genetische Einfluss ist. „Studien zufolge liegt er mal zwischen 40 und 70 Prozent, mal unter 2 Prozent“, wie Dr. Susanna Wiegand, Leiterin des Adipositas-Teams im Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité Berlin auf der Sitzung zu bedenken gab. Dass es eine genetische Komponente gibt, ist jedoch ebenso sicher wie der Einfluss der Eltern, die zum einen eine Vorbildfunktion haben, zum anderen Kühlschrank und die Teller ihrer Kinder füllen. Sie legen damit fest, wie Kinder Essen wahrnehmen, etwa als lästiges Übel, Genuss oder Belohnung.

Viele Ursachen, viele Folgen

Auch der Lebensstil in unserer heutigen Gesellschaft trägt zum Übergewicht bei. In Schulen wird vorwiegend im Sitzen gelernt, daheim mehr ferngesehen und am Computer gesessen als je zuvor, obwohl der Einfluss dieser Faktoren im Einzelnen umstritten ist. Es gibt aber offenbar vulnerable Phasen in der Kindheit, die im Hinblick auf die Gewichtszunahme besonders anfällig machen. So belegte schon die erste Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) 2006, dass im Alter zwischen 7 und 10 Jahren der Anteil übergewichtiger Kinder besonders deutlich zunimmt [3]. Es zeigte sich seinerzeit auch, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten und/oder mit Migrationshintergrund eher unter Adipositas leiden.


Prof. Dr. Petra Warschburger

Die Gesellschaft hat auch Einfluss darauf, wie es den adipösen Menschen seelisch geht. Wie Wiegand ausführte, erfahren sie überdurchschnittlich häufig Mobbing und Hänselei (Bullying und Teasing), werden von Nicht-Adipösen für ihr Übergewicht und die Komorbiditäten selbst verantwortlich gemacht und auch bei der Jobsuche benachteiligt. Dazu passt, was Prof. Dr. Petra Warschburger, Leiterin der Abteilung Beratungspsychologie und des Patienten-Trainings- und Beratungszentrums an der Universität Potsdam, konstatierte: „Depression ist Folge und Ursache von Adipositas.“

Allerdings erkläre das auch nicht alles, meinte Warschburger: „Wenn man es auf die Psyche reduziert, wird man der Komplexität der Adipositas nicht gerecht. Es gibt nur wenige Daten über emotionsinduziertes Essverhalten bei Kindern“, betonte sie. Immerhin weist eine neue Studie darauf hin, dass Temperament und Charakter von Kindern und die Reaktionen der sie umsorgenden Mütter dazu führen können, dass sie Übergewicht entwickeln [4]. Auch sei inzwischen bekannt, dass Übergewichtige in Gegenwart anderer Übergewichtiger mehr essen als unter Normalgewichtigen, dass autoritäre Eltern eher übergewichtige Kinder haben und dass 10 bis 30% der Kinder mit Adipositas klinisch relevante Störungen aufweisen. „Sie haben eine verminderte Lebensqualität, sogar im Vergleich zu Kindern mit anderen chronischen Erkrankungen“, gab Warschburger zu bedenken.

Sport spielt eine Rolle, Einfluss wird aber überschätzt

„Wenn man es auf die Psyche reduziert, wird man der Komplexität der Adipositas nicht gerecht.“
Prof. Dr. Petra Warschburger

Alle Referenten berichteten zwar von sinnvollen Ansätzen, Kindern und Jugendlichen mit Adipositas zu helfen, allerdings war es mehr ein Sammelsurium von Maßnahmen, den Stein der Weisen in Sachen Adipositastherapie und -prävention hat auch bei den jüngsten unter den Übergewichtigen und Fettleibigen offenbar niemand gefunden. Als vielversprechend für eine Prophylaxe erwies sich zum Beispiel das Trinkfit-Projekt, bei dem Wasserspender in Schulen installiert wurden und Lehrer die Kinder dazu motivierten, das Wasser auch zu trinken [5]. Die Studie dazu verdeutlicht, dass in beteiligten Schulen im Untersuchungszeitraum deutlich weniger normalgewichtige Kinder übergewichtig wurden als ohne Trinkfit (3,8% vs 6,0%).

Auch Sport spielt eine Rolle – wenngleich „Bewegung kalorisch überschätzt wird“, wie Prof. Dr. Christine Graf vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der Deutschen Sporthochschule Köln betonte. „Um ein Minzbonbon zu verbrennen, muss man etwa 80 Schritte laufen“, rechnete sie hoch. Ein solches Bonbon hat etwa 20 Kalorien. Allein in einem Kilo Fett stecken 7.000 Kalorien, so lässt sich hochrechnen, wie viel Bewegung man benötigt, um abzunehmen, und dass man auf diese Weise gegen hyperkalorische Ernährung kaum ankommt. Dennoch reißen die Versuche, über Sport die übergewichtigen und adipösen Kinder zu erreichen, nicht ab. Dr. Helmut Langhof, Direktor der Klinik Schönsicht Berchtesgaden, berichtete von einem Programm, bei dem Langlauf und Bergwandern eine Schlüsselrolle spielen. Die Herausforderung für adipöse Kinder sei jedoch, nach so einer Kur den Alltag wieder zu meistern.

„Bewegung wird kalorisch überschätzt. Um ein Minzbonbon zu verbrennen, muss man etwa 80 Schritte laufen.“
Prof. Dr. Christine Graf

An der Sporthochschule Köln gibt es ein Programm, das adipöse Kinder langfristig in Bewegung bringen will. Um diese dafür zu interessieren, erzählen die Beteiligten nicht etwa Fakten wie die, dass weniger Kilos das Herz und die Gelenke schonen und Komorbiditäten wie Typ-2-Diabetes vorbeugen. „Dass Sport gesund ist, ist ein Argument für Erwachsene“, betonte Graf. Den Kindern sagt sie lieber: „Toben macht schlau“. Den Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Fähigkeiten hat Graf selbst mit einem Team belegt [6]. Auch die Eltern bezieht das Programm mit ein. Der Wirksamkeit sind indes auch hier Grenzen gesetzt, wie Graf einräumte. „Wir haben bei unserer Interventionsstudie festgestellt, dass die Kinder motorisch besser werden, aber dabei noch immer weit entfernt sind von den Kindern ohne Adipositas. Außerdem: Der Body Mass Index (BMI) sinkt nicht. Nur die Fettmasse nimmt ab.“

Warschburger erklärte, wie Verhaltenstherapien adipösen Kindern und Jugendlichen langfristig mehr Kraft und Lebensfreude vermitteln können: „Die Kinder sind hinterher nicht unbedingt dünner, aber glücklicher“. Wiegand verwies auf die Inhalte eines einschlägigen Cochrane Review von 2009, der belegt, dass diejenigen Behandlungen am erfolgreichsten waren, die die ganze Familie miteinbezogen – und bei Jugendlichen jene mit zielgerichteter Medikation [7]. Sie hob hervor: „Ich hoffe, dass wir die bariatrische Chirurgie nicht so oft brauchen“. Stattdessen setzt sie auf „intelligente Pharmakotherapie“. Damit Adipositas bei Kindern und Jugendlichen abnimmt, betonte Graf abschließend, „brauchen wir alle, auch die Politiker und die Schulen.“

Referenzen

Referenzen

  1. 65. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), parallel zur 109. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), 12. bis 15. September 2013, Düsseldorf
    http://www.dgkj2013.de/
  2. S. DGSPJ-SY-AP, Oepen J: Update: Adipositas – was hilft wirklich? Abstracts: 731, 617
  3. Robert Koch-Institut (Hg.): Erste Ergebnisse der KIGGS-Studie 2012
    http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Kiggs/Basiserhebung/Ergebnisbrosch%C3%BCre.pdf?__blob=publicationFile
  4. Bergmaier H, et al: Obes Rev (online) 19. August 2013
    http://dx.doi.org/10.1111/obr.12066
  5. Muckelbauer R, et al: Pediatrics 2009; 123(4):e661-667
    http://dx.doi.org/10.1542/peds.2008-2186
  6. Graf C, et al: Deutsche Zeit Sportmed 2003; 54(9):242-246
    http://wp.chilt.de/wp-content/uploads/2008/11/chilt_i_konzentration_und_sport.pdf
  7. Oude Luttikhuis H, et al: Cochrane Summaries (online) 20. Januar 2009
    http://dx.doi.org/10.1002/14651858.CD001872.pub2

Autoren und Interessenkonflikte

Petra Plaum
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Oepen J, Wiegand S, Warschburger P, Graf C, Langhof H: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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