Kein Klinikarzt, der nicht täglich damit zu tun hat: Zur Abschätzung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) und damit der Nierenfunktion sind die schnelle Bestimmung des Serum-Kreatinins und Kreatinin-basierte Schätzformeln unerlässlich. Wo immer Medikamente verordnet werden, spielt die Niere eine Rolle und der Kreatin-Wert ist ein Muss im Routinelabor, auch beim niedergelassenen Arzt. Der Kreatin-Wert ist überdies das wichtigste Instrument, um nierenkranke Patienten zu überwachen. Doch seit einigen Jahren wird in Fachkreisen diskutiert, ob „das Krea“ womöglich ausgedient hat: Cystatin C soll wegen seiner höheren Sensitivität Kreatinin in der Diagnostik ablösen.
Eine neue Meta-Analyse, hochrangig publiziert im New England Journal of Medicine, liefert jetzt ein weiteres Argument pro Cystatin C: Bei der Auswertung von 11 bevölkerungsbasierten Studien und 5 Kohortenstudien mit chronisch kranken Nierenpatienten erwies sich Cystatin C (allein und in Kombination mit Kreatinin) als ein besserer prognostischer Marker als Kreatinin allein [1].
aber noch keinen zwingenden Grund, Kreatinin in der Diagnostik zu ersetzen.“
Zumindest das allgemeine Sterberisiko und das Risiko einer terminalen Niereninsuffizienz konnte unter Einbeziehung von Cystatin C präziser vorausgesagt werden. Beteiligt an der Meta-Analyse waren Wissenschaftler um Prof. Dr. Michael G. Shlipak, Institut für Medizin, Epidemiologie und Biostatistik an der University of California, und die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Dietrich Rothenbacher, Leiter des Ulmer Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie an der Universität Ulm.
Ist es nun an der Zeit, sich von Kreatinin als Standard-Marker zu verabschieden? Prof. Dr. Jan Galle, Direktor der Klinik für Nephrologie und Dialyseverfahren am Klinikum Lüdenscheid und Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie, gibt sich im Gespräch mit Medscape Deutschland noch abwartend. Die neue Studie werde zwar sicherlich bei der anstehenden Überarbeitung der Richtlinien zur Einschätzung der GFR von der US-amerikanischen National Kidney Foundation berücksichtigt werden: „Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es aber noch keinen zwingenden Grund, Kreatinin in der Diagnostik zu ersetzen“, so Galle.
Cystatin C – ein sensitiverer Marker als Kreatinin
Bei den meisten chronischen Nierenerkrankungen nimmt die Nierenfunktion progressiv über die Zeit ab, häufig bis zur terminalen Niereninsuffizienz, die eine regelmäßige Dialyse oder die Transplantation notwendig macht. In Deutschland ereilt die endgültige Nierenschädigung jährlich etwa 175 Personen pro einer Million Einwohner. Derzeit werden hierzulande etwa 70.000 Patienten langfristig per Dialyse behandelt, dazu kommen noch ca. 25.000 Patienten mit einem funktionierenden Transplantat.
Eine eingeschränkte Nierenfunktion ist zudem ein unabhängiger kardiovaskulärer Risikofaktor. Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion – vor allem Dialysepatienten – haben eine deutlich erhöhte kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität.
Ziel der nephrologischen Behandlung ist es, das Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Je früher eine Nierenschwäche behandelt wird, desto höher sind die Erfolgsaussichten. Die GFR ist der sensitivste Parameter der Nierenfunktion und kann schon vor dem Auftreten erster klinischer Symptome Hinweise auf eine Niereninsuffizienz liefern.
In der Klinik wird die GFR in erster Linie mittels Bestimmung des Serum-Kreatinins und der
MDRD-Formel (Modification of Diet in Renal Disease) abgeschätzt. Die Formel bezieht sich auf eine standardisierte Körperoberfläche, das Serum-Kreatinin sowie das Geschlecht, Alter und ggf. Ethnie des Patienten (GFR in ml/min/1,73 m²). Basierend auf der GFR werden 5 Stadien der Niereninsuffizienz unterschieden. Bei einer GFR unter 60 ml/min/1,73 m² (ab Stadium 2) geht man in jedem Fall von einer Nierenerkrankung aus.
Das Problem: Muskelmasse, körperliche Aktivität, Lebensalter, Geschlecht und die Diät beeinflussen den Kreatininwert. Und bei grenzwertig bis leicht eingeschränkter Nierenfunktion ist die Bestimmung des Kreatinins nicht aussagekräftig, da der Kreatinin-Spiegel im Blut erst bei einem Verlust von ca. 50% der Nierenfiltrationsleistung ansteigt – das ist der so genannte „Kreatinin-blinde Bereich“. Bei Werten über 60 ml/min/1,73 m² ist er dadurch ungenau und die tatsächliche GFR kann in diesem Bereich fälschlich als noch normal eingeschätzt werden.
Verschiedene Studien haben bereits zeigen können, dass Cystatin C ein sensitiverer GFR-Marker ist als Kreatinin [2]. Das liegt vor allem an der konstanten Syntheserate von Cystatin C in allen kernhaltigen Zellen, der freien glomerulären Filtration ohne tubuläre Sekretion und nur wenigen Einflussfaktoren auf die Serum-Konzentration im Blut. Auch geringe Nierenfunktionseinschränkungen im Kreatinin-blinden Bereich können mit Cystatin C mit größerer Sicherheit diagnostiziert werden.
Meta-Analyse mit über 90.000 Teilnehmern
Ob sich mit der Bestimmung des Cystatin C oder einer Kombination aus Cystatin C und Kreatinin aber auch ein echter prognostischer Vorteil bezüglich Stadieneinteilung und Risikoklassifizierung für Ärzte und Patienten ergibt, haben Shlipak und Kollegen nach eigenen Angaben nun erstmals untersucht. Sie analysierten dazu die Ergebnisse von insgesamt 16 Studien; 5 davon waren Kohortenstudien mit chronisch nierenkranken Patienten (insgesamt 2.960 Teilnehmer), weitere 11 Untersuchungen mit 90.750 Teilnehmern lieferten Daten aus der allgemeinen Bevölkerung.
Die GFR wurde dabei jeweils mit den Markern Kreatinin, Cystatin C oder einer Kombination aus beiden anhand einer erst kürzlich von der „Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration“ (CKD-EPI) entwickelten Formel abgeschätzt. Die neue Formel benutzt dieselben Parameter wie die MDRD-Formel, soll aber in den Bereichen mit einer GFR über 60 ml/min/1,73 m² realistischere Werte liefern.
In allen Studien zählten sie zudem die Gesamtzahl der Todesfälle, die Zahl der Todesfälle mit kardiovaskulärer Ursache (Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall) sowie die Zahl der terminalen Niereninsuffizienzen. Letztlich wollten sie so herausfinden, inwiefern Cystatin C zu einer Reklassifizierung der Patienten beiträgt und ob sich dadurch auch eine genauere prognostische Aussage bezüglich des Krankheitsverlaufs vornehmen lässt.
Cystatin C erlaubt eine präzisere Prognose
Was Shlipak und Kollegen herausfanden, war zunächst einmal, dass die auf Cystatin C oder einer Kombination aus Cystatin C und Kreatinin basierende GFR eine lineare Assoziation zum Sterberisiko aufwies, im Gegensatz zu der auf Kreatinin allein basierenden GFR. Mit Anwendung des neuen Markers wurden deshalb auch bei zahlreichen Patienten neue Filtrationsraten ermittelt.
Grundsätzlich führte dies dazu, dass eine aufgrund von Cystatin C ermittelte, höhere GFR mit einem geringeren Sterberisiko und einem geringeren Risiko einer terminalen Niereninsuffizienz einhergingen. Als signifikant erwies sich der Unterschied zur Kreatinin-basierten Risikoabschätzung bei den Kreatinin-Kategorien 3b (30-44 ml/min/1,73 m²) und 3a (45-59 ml/min/1,73 m²). In der Kategorie 3a brachte die Verwendung des Markers Cystatin C eine Reklassifizierung von 42% der Teilnehmer mit sich, deren GFR dann bei mindestens 60 ml/min/1,73 m² lag. Bei diesen neu klassifizierten Patienten – deren Nierenfunktion somit besser war, als der Kreatinin-Wert erwarten ließ – war das allgemeine Sterberisiko um 34% reduziert.
Umgekehrt war die Cystatin C- basierte Reklassifizierung in eine geringere GFR-Kategorie – also in eine Kategorie, die eine schlechtere Nierenfunktion anzeigt – auch mit einem höheren Sterberisiko assoziiert: Bei 48% der Teilnehmer aus den Kohortenstudien, denen aufgrund der Kreatinin-Werte noch eine unproblematische GFR von 60-89 ml/min/1,73 m² zugeschrieben worden war, wurde mittels Cystatin C indes eine GFR unter 60 ml/min/1,73 m² ermittelt. Das Sterberisiko dieser Gruppe war um 57% erhöht. Die Neu-Klassifizierung gelang somit, ohne dass ernsthaft nierenkranke Patienten dadurch übersehen wurden.
Auswirkungen auf die Praxis (noch) gering
Dr. Julie R. Ingelfinger (Keenan Research Centre, Toronto) und Dr. Philip A. Marsden (University of Toronto) schreiben in ihrem begleitenden Editorial denn auch, dass Cystatin C offenbar die beste Prognose hinsichtlich Todesrate und terminaler Niereninsuffizienz erlaubt [3].
Galle äußert allerdings Zweifel, ob sich die höhere Sensitivität von Cystatin C in der Praxis wirklich auszahlt. „Für Hausärzte ist letztlich relevant, ob die GFR über oder unter 60 ml/min/1,73 m² liegt. Denn bei einer GFR über 60 ml/min/1,73 m² besteht erst einmal kein akuter Handlungsbedarf.“ Um dies zu überprüfen reicht seiner Ansicht nach die einfache und deutlich günstigere Kreatinin-basierte GFR-Berechnung aus.
Aber er betont auch, dass man die GFR nicht nur isoliert betrachten darf: „Bei einer Proteinurie und/oder Erythrozyturie sollte auch bei einer GFR über 60 ml/min/1,73 m² die Überweisung zum Facharzt erfolgen.“
In epidemiologischen Studien hätte das Cystatin C dagegen durchaus seine Berechtigung. Und die seien, so Galle, auch noch notwendig, bevor man die etablierte Praxis der GFR-Bestimmung umstellt.