„Pfundig“ ist es den meisten Übergewichtigen selbst in Bayern längst nicht mehr zumute. Zu genau weiß inzwischen jeder, dass man mit überzähligen Kilos wegen des veränderten Stoffwechsels eher Gefahr läuft, einen Herz- oder Hirninfarkt zu erleiden, sowie einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln. So weit so allgemein.
Aber es gibt Hoffnung, zumindest für einen nicht unerheblichen Teil der Übergewichtigen. Denn dass man nicht alle dicken Menschen über einen Kamm scheren darf, spricht sich langsam unter Medizinern herum: Rund 20% der Übergewichtigen weisen trotz ihres „krankhaften“ Body-Mass-Indexes von =30 kg/m2 kein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Probleme auf.

Auf diese Untergruppe machen nun die Autoren um Prof. Dr. Norbert Stefan, Inhaber der Heisenberg-Professur für klinisch-experimentelle Diabetologie am Universitätsklinikum Tübingen, in ihrem jüngst erschienenen „Personal view“-Artikel im Fachblatt The Lancet aufmerksam [1]. Sie zeigen sich davon überzeugt, dass das neue Konzept vom „metabolisch gesunden Übergewicht“ mehr und mehr an Bedeutung gewinnen wird.
Bevor jedoch dieses Konzept auch für die tägliche Praxis relevant werden könnte, sind noch viele Fragen zu beantworten: Welche Kriterien machen beispielsweise aus einem Übergewichtigen Patienten einen „happy obese“ – also einen glücklichen Dicken, wie die Untergruppe auch genannt wird. Und bleibt ihm diese Resilienz oder Widerstandsfähigkeit gegenüber einer Entgleisung der Stoffwechselparameter auch langfristig erhalten? Welche biologischen Mechanismen bilden die Grundlage für das Phänomen und könnte man aus diesen sogar ein Therapieprinzip extrahieren?
Der BMI trennt nicht zwischen gesund und krank
Um darauf Antworten zu finden, haben die Autoren in ihrem Artikel die Ergebnisse von themenrelevanten Fachveröffentlichungen analysiert, die zwischen Januar 1990 und März 2013 veröffentlicht worden und in der medizinischen Datenbank PubMed einsehbar sind.
Ihre erste Feststellung: Der Body-Mass-Index (BMI) allein eignet sich tatsächlich nicht für eine scharfe Trennung zwischen „gesund“ und „krank“. Stattdessen haben sich in einer Reihe metabolischer Studien mehrere Kriterien herauskristallisiert, die die glücklichen Dicken weit besser zu definieren scheinen:
- ein geringer Anteil an viszeralem Fettgewebe, d.h. ein Taillenumfang von =102 cm (Männer) bzw. =88 cm (Frauen),
- keine Hinweise auf ein metabolisches Syndrom (z.B. normaler Blutdruck, normale Blutfettwerte, normaler Nüchternblutzucker),
- erhaltene Insulinsensitivität (definiert auf Basis des HOMA- oder Homeostatic Model Assessment-Index) und
- eine gute kardiorespiratorische Fitness.
Des Rätsels Lösung liegt in der Leber
Warum Übergewichtige, die diese metabolischen Pluspunkte vorzuweisen haben, sich offenbar nicht mehr um ihre Gesundheit sorgen müssen als Normalgewichtige auch, war lange Zeit unklar.
Momentan deutet alles darauf hin, dass des Rätsels Lösung in der Leber zu finden ist: Denn nur wenn die Leberzellen verfettet sind, verschlechtert sich auch die Prognose des Übergewichtigen. So wirkte sich z.B. der Fettgehalt der Leber in Studien wesentlich deutlicher auf die Insulinsensitivität bzw. die Inzidenz eines Typ-2-Diabetes aus als die Menge des Bauchfetts ganz allgemein.
Außerdem wurde ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den verfetteten Leberzellen und dem Auftreten von Gefäßschäden nachgewiesen – und zwar unabhängig von weiteren atherosklerotischen Risikofaktoren.
Eine besondere Bedeutung wird dabei dem von der Leber gebildeten Eiweiß Fetuin-A zugeschrieben. Das Protein kann die Blutzucker senkende Wirkung von Insulin vermindern. „Bei einer verfetteten Leber wird Fetuin A vermehrt gebildet“, erläutert Stefan auf Nachfrage von Medscape Deutschland.
„Fetuin A ruft außerdem Entzündungsreaktionen im Körper hervor und schädigt dadurch die Blutgefäße“, sagt der Tübinger Internist. Deshalb haben Übergewichtige mit einem hohen Fetuin-A-Blutwert auch ein erhöhtes Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Letztlich erlaubt dieser Marker also Vorhersagen zum Diabetes-, Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko.
Aber noch ein weiterer Marker spielt offenbar eine Rolle, wenn es darum geht, die Prognose von Übergewichtigen einzuschätzen, das antiinflammatorische Hormon Adiponectin, das auch die Insulinempfindlichkeit steigert. „Bei einer ungünstigen Fettverteilung – also vor allem bei viel Bauchfett – wird deutlich weniger Adiponectin sezerniert“, erläutert Stefan. Das Diabetes-Risiko steigt.
Beide Eiweiße würden sich eventuell auch als Angriffspunkte für eine medikamentöse Therapie eignen, meint der Facharzt für Diabetologie. In dem Lancet-Artikel diskutieren er und seine Kollegen auch bereits eine mögliche Option. So kann der Insulin-Sensitizer Pioglitazon u.a. die Adiponectinkonzentration erhöhen, den Fettanteil in der Leber senken und die Insulinsensitivität steigern.
Nicht mehr nur das Gewicht sollte über die Therapie entscheiden
Noch lässt sich das Gesundheitsrisiko von Übergewichtigen aber nicht einfach per Pille verbessern. Überflüssigen Pfunden muss nach wie vor mit einem veränderten Lebensstil begegnet werden und zur Not mit der Adipositas-Chirurgie.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob man die grundsätzlich knappen Ressourcen im Kampf gegen die globale Adipositas-Epidemie verstärkt auf die Behandlung der Risiko-Patienten verwenden sollte. Vor allem, wenn die glücklichen Dicken womöglich gar keinen metabolischen Vorteil – und damit auch keinen gesundheitlichen Vorteil – aus den Interventionen ziehen würden.
Und darauf deutet tatsächlich einiges hin. In insgesamt 3 Studien, die von den Tübinger Forschern zu dem Thema publiziert wurden, hatten Sport und Diät wenn überhaupt nur einen geringen Effekt bei den metabolisch gesunden Übergewichtigen.
die Behandlung der Risikopatienten zu konzentrieren.“
Aber auch die Entscheidung pro oder contra Adipositas-Operation sollte nicht mehr nur auf der Grundlage eines hohen BMI getroffen werden. Die Nüchterninsulinkonzentration habe sich, so schreiben die Autoren, hinsichtlich der Effektivität der Maßnahme bereits als besseres Selektionskriterium erwiesen.
Stefan rät Ärzten denn auch, nicht mehr nur den BMI ihrer Patienten zu betrachten, sondern zusätzliche Parameter wie die Nüchterninsulinkonzentration heranzuziehen und gegebenenfalls einen Ultraschall der Leber anzuschließen. „In Anbetracht von knappen finanziellen und zeitlichen Ressourcen halte ich es auch letztlich für vertretbar, sich auf die Behandlung der Risikopatienten zu konzentrieren.“
Kein Glück währt indessen ewig. Übergewichte Menschen, die einmal als metabolisch gesund eingestuft wurden, dürfen sich nämlich nicht einfach entspannt zurücklehnen, wie jüngste Untersuchungen zeigen [2]. Stefan: „Im Laufe einer mehrjährigen australischen Untersuchung hatte sich bei etwa einem Drittel der zu Studienbeginn als metabolisch gesund eingestuften Übergewichtigen der Status geändert. Sie gehörten am Ende ebenfalls zur Risikogruppe.“ Es bedarf also der Überwachung des Stoffwechsels, damit sich diese Gruppe nicht in falscher Sicherheit wähnt.