Neue europäische Hypertonie-Leitlinien: Den Blutdruck senken, egal wie

Sonja Boehm | 5. September 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Amsterdam – Im Juni 2013 sind die neuen Hypertonie-Leitlinien der European Society of Hypertension (ESH) und der European Society of Cardiology (ESC) erstmals vorgestellt worden [1]. Bei der Jahrestagung der ESC in Amsterdam hat jetzt Erstautor Prof. Dr. Giuseppe Mancia, Universität von Mailand, einen Überblick über die wichtigsten therapeutischen Aspekte der neuen Leitlinie gegeben [2]. Seine Hauptbotschaft: „Es gibt inzwischen vielfache Evidenz, dass der hauptsächliche Nutzen durch die Blutdrucksenkung selbst vermittelt wird, egal mit welchen Mitteln diese erreicht wird. Daher geht es vor allem darum, den Blutdruck effektiv zu senken!“

Ein Zielwert für alle

Die wichtigste Neuerung der aktualisierten Leitlinie ist, wie Medscape Deutschland bereits berichtet hatte: Für alle Patienten, unabhängig vom Risiko – also für Diabetespatienten ebenso wie für Patienten nach Schlaganfall, mit einer KHK oder einer Nierenfunktionseinschränkung, ob mit oder ohne Diabetes – gilt nun ein einheitliches Blutdruckziel von unter 140/90 mmHg. „Dies vereinfacht die Blutdrucksenkung in der Praxis enorm“, kommentierte Prof. Dr. Bryan Williams, University College London, die neue Leitlinie während des ESC-Kongresses. „Es gibt keine Evidenz für einen Nutzen der Blutdrucksenkung unter Werte von 130/80 mmHg“, erläuterte Williams dieses neue gemeinsame Ziel für alle.

 
„Der hauptsächliche Nutzen wird durch die Blutdrucksenkung selbst vermittelt, egal mit welchen Mitteln diese erreicht wird.“
Prof. Dr. Giuseppe Mancia
 

„Für Diabetiker kann aber laut Leitlinie zumindest beim diastolischen Blutdruck ein etwas niedriges Ziel von unter 85 mmHg angestrebt werden“, sagte Prof. Dr. Renata Cifkova von der Thomayer Universitätsklinik in Prag beim Kongress. In den großen klinischen Studien mit Diabetespatienten habe sich bei Werten unter 130 mmHg nur noch die Schlaganfallinzidenz verringert, die Gesamtrate kardiovaskulärer Ereignisse sowie die Mortalität seien aber unbeeinflusst geblieben. Doch habe gleichzeitig das Risiko schwerer Nebenwirkungen der Therapie um rund 40% zugenommen. Wichtig sei es, überhaupt zu behandeln, da die Hypertonie das kardiovaskuläre Risiko von Diabetikern stark erhöhe und eine Therapie sich vor allem bei makrovaskulären und renalen Endpunkten günstig auswirke.

Unter den verschiedenen Wirkstoffen sollten bei Diabetikern Hemmstoffe des Renin-Angiotensin-Systems (RAS) bevorzugt eingesetzt werden – vor allem wenn zusätzlich eine Proteinurie oder Mikroalbuminurie besteht. Aber auch alle anderen Wirkstoffklassen sind möglich, so Cifkova.

Unter Lebensstilmodifikationen enges Follow-up empfohlen

Für Diabetiker wie für andere Hypertonie-Patienten gelten Lebensstiländerungen als Eckpfeiler der Therapie. Nach wie vor gilt, dass Salzrestriktion, maximal moderater Alkoholkonsum, Gewichtsabnahme und Nikotinverzicht empfohlen werden. Mancia rät bei Lebensstilmodifikationen jedoch zu einem „engen Follow-up“ der Patienten. Diese sollten sich nicht „zu sicher fühlen, wenn andererseits der Blutdruck immer noch zu hoch ist“. „Fast immer sind doch zusätzliche Medikamente nötig, um den Blutdruck ausreichend zu kontrollieren!“

 
„Für Diabetiker kann aber laut Leitlinie zumindest beim diastolischen Blutdruck ein etwas niedrigeres Ziel von unter 85 mmHg angestrebt werden.“
Prof. Dr. Renata Cifkova
 

Eine allgemeine Empfehlung für eine bestimmte Antihypertensiva-Klasse gibt es in der neuen Leitlinie nicht. Mancia: „Die großen Wirkstoffklassen sind alle ähnlich wirksam in der Blutdrucksenkung.“ Dies bezieht sich auf Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptorblocker und Calcium-Antagonisten. Alle seien sowohl für die Initial- als auch die Erhaltungstherapie in der Monotherapie sowie in ausgewählten Kombinationen geeignet. Differenzierungen aufgrund unterschiedlicher Studien seien oft künstlich und durch einen Selektions-Bias der Studien bedingt.

Diskussion um Hydrochlorothiazid

Einige Aspekte der Leitlinie sind, wie Mancia berichtete, unter den Autoren sehr kontrovers diskutiert worden. So etwa, ob Hydrochlorothiazid (HCTZ) überhaupt in die empfohlenen Diuretika aufzunehmen sei. Die Argumente der Gegner: Die Evidenz für den Nutzen einer niedrig dosierten HCTZ-Therapie zur Reduktion kardiovaskulärer Endpunkte sei limitiert; es senke den ambulanten Blutdruck nicht so ausgeprägt und sei kardiovaskulär weniger protektiv als etwa Chlorthalidon. Insgesamt seien diese Argumente aber in Studien nicht ausreichend bewertet worden, berichtete Mancia, und HCTZ werde nun in der Leitlinie gleichberechtigt mit Chlorthalidon und Indapamid empfohlen.

Ein weiterer Diskussionspunkt war ein möglicher Zusammenhang von Angiotensin-Rezeptorblockern und Krebs. Mancia dazu: „Weder aus Metaanalysen noch aus einer der großen randomisierten kontrollierten Studien gibt es Hinweise auf eine erhöhte Krebsinzidenz unter einem Vertreter dieser Wirkstoffklasse.“

Betablocker bleiben gleichberechtigt in der Firstline

Einige nationale Leitlinien führen schon seit längerem Betablocker nicht mehr als Firstline-Therapie bei arterieller Hypertonie. Doch ESH und ESC sehen wie in den früheren Versionen auch in den aktuellen Empfehlungen diese Wirkstoffgruppe gleichberechtigt zu den übrigen. Ihre Argumentation: Vasodilatierend wirkende Betablocker scheinen sich weniger ungünstig etwa auf Insulinsensitivität und Glukosemetabolismus auszuwirken als die älteren Substanzen (z.B. Atenolol, Metoprolol).

Die Reduktion kardiovaskulärer Endpunkte sei in Metanalysen und großen klinischen Studien mit Betablockern ähnlich gut wie mit anderen Antihypertensiva. Und besonders nach einem Herzinfarkt und bei Herzinsuffizienz profitierten die Patienten von der Protektion durch Betablocker, betonte Mancia. „Es gibt daher keinen Grund, sie als Firstline-Therapie auszuschließen.“

Kein Beleg, dass ACE-Hemmer den ARB überlegen sind

Kontrovers diskutiert wurde im Leitlinien-Komitee auch, ob ACE-Hemmer und Angiotensin-Rezeptorblocker (ARB) tatsächlich kardiovaskulär ähnlich protektiv wirksam sind, berichtete Mancia. In klinischen Studien seien die Effekte unter ARB nicht so ausgeprägt gewesen wie unter den ACE-Hemmern, lautet hier die Argumentation.

 
„Die großen Wirkstoffklassen sind alle ähnlich wirksam in der Blutdruck-senkung.“
Prof. Dr. Giuseppe Mancia
 

Mancias Entgegnung: Die ACE-Hemmer-Studien sind älter, die Patienten damals hatten eine schlechtere kardiovaskuläre Basismedikation, ihr Ereignisrisiko war höher, die erzielte Blutdrucksenkung größer. Daher habe auch leichter ein größerer Nutzen gezeigt werden können. In den modernen Studien mit ARB bei Patienten mit insgesamt niedrigerem Risiko und besserer Basistherapie sei es dagegen sehr viel schwieriger gewesen, einen signifikanten Benefit zu belegen. Der Vergleich der verschiedenen Studien sei damit nicht zulässig. Und: „Im Direktvergleich ebenso wie in Metaanalysen haben sich beide Substanzgruppen als ähnlich wirksam erwiesen.“

So lautet die Schlussfolgerung der neuen Leitlinien laut Mancia dann auch, dass es keine Substanzen der ersten, zweiten oder dritten Wahl zur Blutdrucksenkung gibt. „Dies würde einen ‚künstlich‘ kreierten Durchschnittspatienten voraussetzen.“ Aber: „Alle Wirkstoffe haben ihre Vor- und auch Nachteile.“ Daher müsse die Wahl für jeden Patienten individuell getroffen werden.

Intensivierung: Besser Kombi statt Dosiserhöhung

Doch was tun, wenn man mit dem gewählten Firstline-Blutdrucksenker nicht erfolgreich ist? „Es ist nicht falsch, in solchen Fällen das Medikament zu wechseln“, so Mancia. Eine Dosissteigerung wird dagegen nicht empfohlen. Die beste Möglichkeit laut Leitlinien ist dann jedoch die Kombination mit einer zweiten Wirkstoffklasse. Dabei sind im Prinzip alle Kombinationen möglich – außer der von ACE-Hemmer und ARB. Als besonders empfehlenswert gelten ACE-Hemmer oder ARB plus Thiaziddiuretikum oder Calcium-Antagonist.

Es muss auch nicht immer mit der Monotherapie begonnen werden. Mancia verwies auf Daten, nach denen Patienten, die rasch auf die Therapie ansprechen, eine bessere Prognose haben. Auch gebe es Hinweise, dass die Therapieadhärenz besser sei, wenn mit einer Kombi- anstelle einer Monotherapie gestartet werde.

Referenzen

Referenzen

  1. Mancia G, et al: Eur Heart J (online) 14. Juni 2013
    http://eurheartj.oxfordjournals.org/content/34/28/2159
  2. European Society of Cardiology: ESC Congress 2013 – 31. Aug. bis 4 Sep. 2013, Amsterdam/ Niederlande
    “The 2013 ESC/ESH Guidelines on Arterial Hypertension The Committee for Practise Guidelines”, 3. September 2013
    http://www.escardio.org/ESC2013

Autoren und Interessenkonflikte

Sonja Boehm
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Mancia G, Williams B, Cifkova R: Erklärungen zu Interessenkonflikten s. Publikation im Eur Heart J.

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