Schilddrüsenkarzinome werden heutzutage überdiagnostiziert, meint ein US-Autorenteam um Dr. Juan P. Brito von der Abteilung für Endokrinologie, Diabetes, Stoffwechsel und Ernährung der Mayo Klinik in Minnesota. Die von ihnen ausgemachten Folgen: Patienten (und Ärzte) würden häufig vollkommen unnötig in Angst und Schrecken versetzt und die Organe ohne triftigen Grund entfernt [1].
In vielen Fällen, so die Autoren im Fachjournal British Medical Journal, sei die Erkrankung jedoch gar nicht lebensbedrohlich. Denn rund 85% der Betroffenen leiden unter einem sogenannten papillären Karzinom, das – besonders wenn die Knoten nicht größer als 20mm sind – mit einer exzellenten Prognose verbunden ist.
Sie fordern deshalb ein Umdenken: In bestimmten Fällen würde es sich lohnen, nicht sofort mit der Behandlung – sprich: der kompletten oder teilweisen Entfernung der Schilddrüse und nachfolgender Radiojod- oder Strahlentherapie – zu beginnen, sondern erst einmal abzuwarten.

Prof. Dr. Markus Luster, Direktor der Klinik für Nuklearmedizin am Uniklinikum Marburg und Sprecher der „Sektion Schilddrüse“ der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, würde jedoch nicht so weit gehen, seinen Patienten von einer Operation abzuraten – zumindest noch nicht: „Die Operation verhilft den meisten Patienten zu einer uneingeschränkten Lebenserwartung. Dass der Verzicht auf die sofortige OP nichts an der Lebenserwartung ändert, ist dagegen noch nicht mit ausreichender Evidenz belegt“, sagt der Facharzt für Nuklearmedizin auf Nachfrage von Medscape Deutschland.
Die meisten Knotenfunde sind Zufallsbefunde
Die Autoren der Mayo-Klinik argumentieren dagegen, dass die kleinen Knoten sowieso meist nur zufällig entdeckt würden: „Heute erhalten mehr Patienten die Diagnose Schilddrüsenkrebs nach der Bewertung eines zufällig gefundenen Schilddrüsenknotens als nach der Bewertung eines symptomatischen oder palpierbaren Knotens“, schreiben sie.
Bessere diagnostische Möglichkeiten, wie die Computer- oder Kernspintomografie, hätten zu den häufigeren Knotenfunden substantiell beigetragen. Mit der Folge, dass auch die Zahl der Thyreoidektomien zwischen 1996 und 2006 in den Vereinigten Staaten um 60% angestiegen sei.
Die meisten Knoten bedürfen nach Ansicht von Brito und seinen Kollegen aber gar keiner Therapie: „Der überzeugendste Beweis, dass Patienten mit einem Niedrig-Risiko-Karzinom überbehandelt werden, ist der Umstand, dass trotz eines dreifachen Anstiegs der Inzidenz des papillären Schilddrüsenkrebses in den vergangenen 30 Jahren die Todesrate stabil geblieben ist.“
In Deutschland ist die Entwicklung ähnlich: Seit den 1980er Jahren sind die altersstandardisierten Erkrankungsraten bei den Frauen um 100%, bei den Männern um 75% gestiegen (im Jahr 2008 erkrankten 4.160 Frauen und 1.710 Männer an Schilddrüsenkrebs). Auch hier lässt sich der Anstieg zu einem großen Teil auf die papillären Karzinome zurückführen. Im Gegensatz dazu nahmen die Sterberaten von Frauen und Männern in Deutschland im Laufe der Jahre jedoch sogar etwas ab (Sterbefälle 2008: 429 Frauen und 279 Männer) [2].
Thyreoidektomien – teuer, belastend und unnötig?
Die Autoren von der Mayo Klinik sagen: Die Therapien sind nicht nur häufig unnötig, sie kosten auch das Gesundheitssystem viel Geld und können für den Patienten mit Nebenwirkungen, wie sekundären malignen Neoplasien, verbunden sein. Auch die einseitige Stimmbandlähmung stellt eine nicht zu vernachlässigende Komplikation einer Schilddrüsenoperation dar.
Sie fordern deshalb, dass Niedrig-Risiko-Patienten (d.h. Betroffene mit einer Knotengröße unter 20mm sowie ohne familiäre Häufung, ohne frühere Bestrahlung und ohne Ausbreitung jenseits der Schilddrüse) die Möglichkeit gegeben werden sollte, sich gegen einen operativen Eingriff und für eine aktive Überwachung zu entscheiden.
Sie geben allerdings zu: Ist erst einmal das Wort „Krebs“ gefallen, fällt Patienten das Abwarten nicht leicht. Die Angst vor dem Krebs kann auch zu einer psychischen Belastung werden. Ihre pragmatische Lösung: Die Niedrig-Risiko-Läsionen sollten in „micropapillary lesions of indolent course (micrpPLICs)“ umbenannt werden.
Das würde nicht nur der günstigen Prognose gerechter werden und dabei helfen, unnötige Behandlungen zu vermeiden. „Es könnte auch die Rekrutierung von Patienten für Studien verbessern, bei denen ein Arm die aktive Überwachung beinhaltet und nicht die sofortige Behandlung“, hoffen die Autoren.
Denn an Studien, die sich mit den Auswirkungen einer solchen abwartenden Vorgehensweise befassen, herrsche nach wie vor Mangel. Dem stimmt auch der Nuklearmediziner Luster zu. Weitere Studien sind seiner Ansicht nach notwendig, um belastbare Aussagen zur Effektivität eines Vorgehens im Sinne einer aktiven Überwachung zu bekommen. Da die Operation und die anschließende Radiojodtherapie jedoch zu einer uneingeschränkten Lebenserwartung führen, müssten solche Vergleichsstudien mindestens auf Jahrzehnte angelegt sein.
Zudem hält er die Grenze von einer Knotengröße von 20mm, die Brito und Kollegen vorschlagen, für eher willkürlich gewählt. Zumal die tatsächliche Größe eines Tumors erst im Rahmen einer Operation vollständig sichtbar wird: „Vorher können wir die Größe nur mehr oder weniger genau schätzen“, sagt Luster.
„Als Arzt möchte ich die Patienten bestmöglich behandeln“, sagt er. „Und wir wissen momentan einfach noch nicht genug über die Langzeitwirkung des weniger aggressiven Vorgehens.“ Daran ändere auch ein anderer Name für die Knoten nichts.