Müssen Kinder, die Gemeinschaftseinrichtungen besuchen wollen, geimpft sein? Ja, ab jetzt jedenfalls in den Kitas und Horten von Teltow, wie die Chefin des Kitaeigenbetriebes der Stadt den Potsdamer Neuesten Nachrichten soeben ankündigte [1]. Solveig Haller will es im Zweifel auf eine gerichtliche Auseinandersetzung ankommen lassen und hat bereits eine Familie abgewiesen, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen lassen wollte.
Sie weiß die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich: 4 von 5 Deutschen befürworten nach einer Umfrage der DAK die Einführung einer solchen Impfpflicht [2]. Die jüngsten Fälle von Masernerkrankungen vor allem in Bayern und Berlin sowie vermehrte Keuchhustenerkrankungen haben die Wogen in den vergangenen Wochen hoch schlagen lassen. Eine Impfpflicht scheint da für viele eine adäquate Lösung zu sein. Sogar der Bundesgesundheitsminister will sie nicht mehr ausschließen.
Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) jedenfalls hält eine Impfpflicht für überfällig: „Ungeimpfte oder nicht nach Impfkalender geimpfte Kinder setzen sich in Gemeinschaftseinrichtungen nicht nur selbst einem Infektionsrisiko aus, sondern gefährden auch andere Kinder und speziell Kleinkinder“, erklärt DAKJ-Sprecher und STIKO-Mitglied Prof. Dr. Ulrich Heininger in einer Stellungnahme der DAKJ [3].
Doch trotz vieler Befürworter gibt es auch Gegenstimmen. „Eine Impfpflicht ist kaum mit unserem westlich-demokratischen Menschenbild vereinbar“, gibt z.B. Dr. Steffen Rabe, Kinderarzt aus München, zu bedenken.
Masern – der stetige Zankapfel zwischen Gegnern und Befürwortern
Die Debatte hat sich – wie so oft und unlängst wieder – an der Häufung der Masernfälle u.a. in Bayern entzündet. Aus immunologischen Gründen können Lebendimpfstoffe wie der Masern-Impfstoff in den ersten Lebensmonaten noch nicht verimpft werden. „Wenn nun ältere Kinder eine Maserninfektion in die Kindertagesstätte einschleppen, besteht die Gefahr einer Übertragung auf die noch ungeimpften beziehungsweise noch unvollständig geimpften Kleinkinder“, erläutert Heininger.
Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), sieht in der Impfpflicht ein gesellschaftspolitisches Zeichen: „Es geht um das Erreichen einer Herdenimmunität, denn es müssen ja auch Kinder geschützt sein, die aufgrund ihres Alters noch nicht oder aufgrund von anderen Erkrankungen überhaupt nicht geimpft werden können“, erklärt er auf Nachfrage von Medscape Deutschland. Alles andere als eine Impfpflicht für Kinder sei nicht zielführend, betont auch Dr. Martin Terhardt, Kinder- und Jugendarzt aus Ratingen, Impfexperte und Mitglied der STIKO auf Nachfrage von Medscape Deutschland.
Sind die Impfraten so schlecht?
Hartmann glaubt nicht, dass der DAKJ-Vorstoß Impfkritiker auf die Barrikaden treibt: „Auch in Ländern, in denen diese Regelung schon lange besteht, gibt es keine Zunahme von Impfkritikern. Den harten Kern von etwa 2 Prozent der Bevölkerung wird man ohnehin nicht überzeugen können. Es genügt ja, wenn 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen entsprechend den aktuellen STIKO-Empfehlungen geimpft sind.“
Aber wenn das die Landmarke ist, die man erreichen möchte, so ist das größtenteils bereits gelungen – auch ohne jede Impfpflicht. Denn die Impfdisziplin der jungen Familien ist gut und wird immer besser. Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) werden so zufriedenstellend umgesetzt, dass es sogar explizit in einschlägigen Arbeiten über den Impfstatus selbst von Mitgliedern der STIKO hervorgehoben wird [4,5]: „Infolge der hohen Akzeptanz bei jungen Familien und der konsequenten Umsetzung dieser Empfehlungen besonders durch Kinder- und Jugendärzte liegen die Durchimpfungsraten in diesen Altersgruppen, erhoben im Rahmen der Einschulungsuntersuchung, je nach Impfung bei bis zu 98%“.
Selbst für Bayern – das schwarze Schaf unter den Bundesländern, wenn es um Impflücken geht – weist eine entsprechende Erhebung des Impfstatus in den Schuleingangsuntersuchungen für das Jahr 2010 immerhin nach, dass 97,8% der Kinder geimpft sind, wenn beide Elternteile nicht deutsch sprechen, 95,2%, wenn ein Elternteil deutsch spricht, und immerhin noch
92,5%, wenn beide Deutsch sprechen [6]. Das waren seinerzeit schon Schulkinder, für ein Bundesland, das für seine Masernpartys notorisch bekannt ist, ein respektables Ergebnis. Nebenbei lässt sich an den Zahlen ablesen, dass nicht zuletzt Migrantenfamilien in dieser Erhebung eine vorbildliche Impfdisziplin zeigen.
Masernfälle waren ein Versäumnis früherer Tage
Was würde es also nützen, wenn jetzt eine Impfpflicht eingeführt würde? Hartmann geht davon aus, dass eine Impfpflicht langfristig vergessene Impfungen kompensieren könnte. Aber gerade die Masernfälle belegen, dass es hier nicht um eine mangelhafte Impfdisziplin geht, was die Impfungen der Kleinkinder angeht.
„Die Masernausbrüche sind ein Versäumnis früherer Tage“, stellt Susanne Glasmacher vom Robert Koch-Institut (RKI) klar. Seit 1973 werde gegen Masern geimpft, seit 1980 gibt es den MMR-Impfstoff. Allerdings wird erst seit 1991 die zweite Impfung empfohlen, und nur, wer zweifach geimpft ist, weist einen Schutz von über 95% auf.
Allerdings wurde die zweite Impfung jahrelang für das Alter von 2 bis 5 Jahre empfohlen: „Das ist ein Alter, in dem ein Kind kaum noch zum Kinderarzt geht, es sei denn, es ist krank oder verletzt.“ So wurde die zweite MMR-Impfung sehr häufig schlicht vergessen. 2001 war nur jedes 4. Kind bei der Einschulung 2 mal gegen MMR geimpft, so dass das RKI erst 2001 empfahl, die zweite Impfung auf das zweite Lebensjahr vorzuziehen, damit sie im Rahmen der U-Untersuchungen erfolgt und nicht vergessen wird. Der Großteil der jetzt mit Masern Infizierten aus den Jahrgängen vor 2001 war nur unzureichend – also einmal – oder gar nicht geimpft.
Mit „Impfmüdigkeit“ haben die Impflücken nach Einschätzung des RKI deshalb auch wenig zu tun. „Wir verwenden diesen Begriff nicht, denn er impliziert, es habe einmal eine höhere Impfbereitschaft gegeben, und die Leute wurden dann quasi müde“, stellt Glasmacher fest. Dem sei aber nicht so: „Im Gegenteil: Bei den Schulanfängern wird der Impfstatus tendenziell immer besser“.