Radiotherapie des Hodgkin-Lymphoms – eine Frage der Perspektive

Dr. med. Ludger Riem | 16. August 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Essen – Werden Patienten in frühen Stadien eines Hodgkin-Lymphoms neben der üblichen Chemotherapie zusätzlich einer (mediastinalen) Bestrahlung ausgesetzt, erspart ihnen dies womöglich das ein oder andere Rezidiv. Der Preis dafür ist ein erhöhtes Risiko für Sekundärmalignome und kardiovaskuläre Folgekomplikationen. Womöglich ein zu hoher Preis, befand Prof. Dr. Ulrich Dührsen, am Universitätsklinikum Essen Leiter der Abteilung Hämatologie, beim Update Hämatologie/Onkologie 2013, einer Fortbildungsveranstaltung in Essen [1]. Seine Sympathie für ein eher ‚strahlenarmes’ Vorgehen hat der Hämatoonkologe mit seiner Interpretation der aktuellen Studiendaten begründet.

Patienten mit Hodgkin-Lymphom vor möglicherweise überflüssigen Folgekomplikationen einer (mediastinalen) Radiotherapie – allen voran Mammakarzinom, Bronchialkarzinom oder Kardiomyopathie – zu bewahren, dieses Bemühen war die Triebfeder für 2 Untersuchungen, deren erste Ergebnisse kürzlich zeitgleich bei der letztjährigen Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) vorgestellt wurden. Trotz ähnlicher Ergebnisse gelangten die Autoren nach den Worten Dührsens zu konträren Schlussfolgerungen.

In einer britischen Studie erhielten 602 Patienten mit Hodgkin-Lymphom in frühen, prognostisch günstigen Stadien (I oder II) 3 Zyklen einer Chemotherapie (ABVD/Adriamycin, Bleomycin, Vinblastin, Dacarbazin) und wurden danach mittels Positronenemissionstomografie (PET) untersucht [2]. Bei positivem Befund schloss sich ein weiterer ABVD-Zyklus an und die Patienten wurden zusätzlich bestrahlt. Im Falle eines negativen PET-Befundes – einen solchen wiesen 3 Viertel der Studienteilnehmer auf – erhielten die Patienten je nach Randomisierung eine zusätzliche Strahlentherapie.

Mit 91 versus 94% fanden sich im Hinblick auf das progressionsfreie Überleben nach 3 Jahren geringfügige Vorteile zugunsten der Bestrahlungsgruppe. Der angestrebte Nachweis, dass der Verzicht auf die Bestrahlung im Ergebnis nicht unterlegen war, wurde rein statistisch damit knapp verpasst. Im Hinblick auf das Gesamtüberleben schnitten die nicht bestrahlten Patienten sogar besser ab (100 versus 97%). Auch deshalb halten die Autoren der Studie den Verzicht auf eine Bestrahlung in der genannten Konstellation für vertretbar.

Unterschiedliche Konsequenzen aus ähnlichen Ergebnissen

In einem ähnlichen Patientenkollektiv wurde im Rahmen einer belgischen Studie Hodgkin-Patienten mit negativem PET-Befund in einem experimentellen Arm die ansonsten standardmäßige Bestrahlung vorenthalten. Die Patienten erhielten stattdessen 2 weitere ABVD-Zyklen. Bezüglich des progressionsfreien Überlebens nach einem Jahr ergaben sich ähnliche Ergebnisse wie in der vorgenannten Studie: Mit 100 versus 95% schnitt die Bestrahlungsgruppe wiederum etwas besser ab, so dass der Nachweis, dass dieser Kombinationsansatz nicht unterlegen war, wiederum nicht erbracht werden konnte [3].

Gleichwohl hatte dieses sehr ähnliche Ergebnis völlig andere Konsequenzen: Der experimentelle Arm wurde vorzeitig geschlossen, weil die Studiengruppe den Verzicht auf eine Strahlentherapie aufgrund des erhöhten Rezidivrisikos für unvertretbar hielt.

Diese konträren Schlussfolgerungen aus durchaus vergleichbaren Studienergebnissen lassen sich nach Darstellung Dührsens so erklären: Ist allein die Vermeidung von Rezidiven oberstes Therapieziel, spricht vieles für die Bestrahlung. Möchte man Patienten, die in prognostisch günstigen Stadien eines Hodgkin-Lymphoms überwiegend noch eine sehr lange Lebensspanne vor sich haben, möglichst vor Spätkomplikationen schützen, ist ein Verzicht auf eine Radiatio sehr wohl zu erwägen, zumal im Falle von Rezidiven noch effektive Therapieoptionen (Salvage-Therapie) verfügbar sind.

Eine eher strahlenfreudige Grundhaltung könnte nicht zuletzt auch durch die Tatsache begünstigt werden, dass die Primärtherapeuten die Spätfolgen aufgrund der langen Latenzzeiten gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Mit seinen eigenen Vorlieben hielt der Essener Hämatoonkologe nicht hinter dem Berg: „Ich persönlich würde es mit den Engländern halten...“

Primär mediastinales B-Zell-Lymphom

Anders als es eine kürzlich publizierte Arbeit im New England Journal of Medicine suggerieren könnte, sieht Dührsen einstweilen keinen Anlass, gängige Therapiestandards bei Patienten mit primär mediastinalem B-Zell-Lymphom über den Haufen zu werfen. Auch bei dieser mit dem Hodgkin-Lymphom biologisch verwandten Erkrankung denkt man um Willen geringerer Langzeitkomplikationen über einen Strahlenverzicht nach.

Diesem Ziel könnte man womöglich mit einer optimierten Chemotherapie nach dem in den Vereinigten Staaten in der Prüfung befindlichen DA-EPOCH-R-Protokoll nahe kommen. Es handelt sich hier um eine an die individuelle Knochenmarkstoleranz adjustierte (DA/dose-adjusted) Dauerinfusion diverser Zytostatika, im Gefolge derer die Blutbildung an Tag 6 mittels G-CSF-Gaben wieder stimuliert werden soll.

Nach 6 bis 8 Zyklen berichten die Autoren der NEJM-Studie bei den 51 eingeschlossenen Patienten über ein ereignisfreies 5-Jahres-Überleben von 93% und ein Gesamtüberleben von 97%. In einer retrospektiv ausgewerteten Kontrollgruppe (n=16) stiegen diese Zahlen sogar jeweils auf 100% – bei  96% der Patienten ohne zusätzliche Strahlentherapie [4].

Trotz dieser hervorragenden Ergebnisse evoziert die hochrangig publizierte Studie Dührsen Unzufriedenheit: „Ich selbst war total sauer, als ich das gesehen habe“, mochte sich der Essener Hämatologe einige Anmerkungen zum Design dieser unkontrollierten Phase-2-Studie nicht verkneifen. „Haben sie schon einmal eine unkontrollierte Phase-2-Studie gesehen, die über 13 Jahre läuft?“ – und zu deren einziger Absicherung ein zweites Patientenkollektiv mit sehr geringer Fallzahl retrospektiv ausgewertet wurde. „Wer sagt mir denn, dass die alle genommen haben, die sie behandelt haben, vielleicht waren es ja nur die, die besonders gut liefen“, sagte Dürsen und siedelte damit die Studie mindestens an der Grenze zu unseriöser Arbeit an.

Referenzen

Referenzen

  1. Update Hämatologie/Onkologie 2013, Essen, 21.-22. Juni 2013.
  2. Radford J, et al : Results of the UK NCRI RAPID Trial / American Society of Hematology (ASH) 2012 Atlanta, abstract 547.
  3. André MPH, et al : ASH 2012 Atlanta, abstract 549.
  4. Dunleavy K, et al: NEJM 2013;368(15):1408-1416
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa1214561

Autoren und Interessenkonflikte

Dr. med. Ludger Riem
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

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