„Man darf als Arzt das Thema Gewalt nicht verdrängen!“

Ursula Armstrong | 12. August 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Im Dezember 2012 starb in Köln die 2-jährige Lea-Sofie qualvoll, nachdem sie brutal von ihrem Stiefvater misshandelt worden war. In Kinder- und Jugendheimen, etwa denen der Haasenburg GmbH in Brandenburg, sowie in Internaten wie der Odenwaldschule sollen Gewalt und Misshandlung gegen Schutzbefohlene an der Tagesordnung gewesen sein.

 
„Auch bei Ärzten wird das Thema verdrängt.“
Prof. Rolf Kreienberg
 

Die sind Fälle, die durch die deutschen Medien gegangen sind. Die Menschen sind erschreckt, abgestoßen und entsetzt – bis das Thema wieder abgeflaut ist und man wieder wegschaut. Doch Gewalt in Familien, gegen Kinder und Frauen, Misshandlungen in Heimen gegen Jugendliche, Behinderte und alte Menschen sind nicht die Ausnahme. Sie sind häufig.

Das Thema Gewalt sei ein „typisches Verdrängungsthema“, äußert Prof. Rolf Kreienberg aus Landshut gegenüber Medscape Deutschland. Der emeritierte Gynäkologe hat sich bereits in seiner Zeit als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG, 2008 bis 2010) für das Thema stark gemacht und sich für das Modellprojekt „Medizinische Intervention gegen Gewalt“ (MIGG) engagiert: „Auch bei Ärzten wird das Thema verdrängt.“ Dabei sind gerade sie häufig mit als erste mit Gewaltopfern konfrontiert.

„Ärzte sind nicht auf das Thema Gewalt vorbereitet“

Nicht nur in der Notaufnahme von Krankenhäusern, auch in den Praxen haben Allgemeinmediziner, Gynäkologen, Kinderärzte, aber auch Zahnmediziner, HNO-Ärzte und Augenärzte mit Gewaltopfern zu tun – und dies nicht selten. „Es gibt zwar keine Daten, denn nichts wird registriert, nichts muss gemeldet werden, aber man kann davon ausgehen, dass Gewaltopfer in den Praxen häufiger sind als gedacht“, bestätigt Kreienberg. „Doch Ärzte sind überhaupt nicht darauf vorbereitet, sie müssen das Problem aber kennen.“

Etwa häusliche Gewalt: „Häusliche Gewalt ist ein komplexes, oft über längere Zeit sich ausbildendes System aus Macht und Kontrolle einer Person über eine andere“, heißt es in dem Ärztlichen Praxishandbuch „Gewalt“, das gerade erschienen ist und von der DGGG und dem hessischen Sozialministerium herausgegeben wird [1]. Betroffen sind meist Frauen.

In der ersten für Deutschland repräsentativen Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004 gaben 37% von 10.264 befragten Frauen an, bereits Gewalt erlebt zu haben. Davon waren 64% mindestens einmal Opfer körperlicher Gewalt und 13% Opfer strafrechtlich relevanter sexueller Übergriffe.

Etwa jede 4. Frau war mindestens einmal körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch den Partner ausgesetzt. Von den Frauen, die Opfer körperlicher Gewalt durch den Partner gewesen waren, gaben 37% an, schwere Gewalthandlungen erlebt zu haben, und 27% sehr schwere bis lebensbedrohliche körperliche Gewalt. Das bedeutet: Etwa jede 7. Frau in Deutschland war als Erwachsene mindestens einmal Opfer schwerer bis lebensbedrohlicher Gewalt durch ihren Partner. „Dennoch wird das Thema verdrängt und in den Privatbereich geschoben“, kritisiert Kreienberg. Das seien Familiendinge, da mische man sich nicht ein.

Frauen suchen meist Hilfe bei einem Arzt

Und gerade Ärzte sind hier gefordert. Etwa ein Drittel der betroffenen Frauen nahmen wegen der erlittenen Verletzungen medizinische Hilfe in Anspruch, auch das hat die Studie ergeben. Frauen, die Hilfe suchen, wenden sich am häufigsten an einen Arzt.

Vieles kann verdächtig sein und auf Gewalteinwirkung hindeuten: Stich- und Hiebverletzungen, Schnitt- und Brandwunden, Prellungen, Hämatome, Würgemale, auch Frakturen, vor allem des Nasenbeins, Arm- und Rippenbrüche, Trommelfellverletzungen, Kiefer- und Zahnverletzungen werden im Ärztlichen Praxishandbuch aufgezählt. Aber auch chronische Erkrankungen und Behinderungen können Folge von Gewalt sein, etwa die dauerhafte Einschränkung des Seh- oder Hörvermögens, unklare Beschwerden wie Unterleibsschmerzen, Essstörungen oder psychische Probleme wie Depression, Angst und Schlafstörungen. Ärzte, die bei ihren Patientinnen solche Veränderungen beobachten, sollten ebenfalls hellhörig werden.

Häusliche Gewalt wird nicht angesprochen, der Täter wird meist gedeckt

Auch wenn die Symptome eindeutig sind, sprechen betroffene Frauen die häusliche Gewalt meist nicht an. Im Gegenteil, sie decken den Täter oft über Jahre, ja, fühlen sich selbst schuldig an dem, was ihnen widerfährt. Hier ist viel Fingerspitzengefühl vonnöten.

Wichtig ist, in das Gespräch einzusteigen, ohne Verweigerungsstrategien auszulösen. Am besten sind allgemeine Fragen wie:  „Haben Sie sich verletzt?“ oder „Wie ist es zu dieser Verletzung gekommen?“ Dann gilt es, genau zuzuhören. Wird der Verdacht etwa durch eine ausweichende Antwort der Patienten bestätigt, sollte konkret nachgefragt werden, wird im Praxishandbuch empfohlen: „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber mir sind solche Verletzungen auch als Folge von Schlägen… bekannt“ oder „Kann es sein, dass Sie von einer anderen Person geschlagen, getreten, geschubst oder gebissen wurden?“

 
„Man muss als Arzt hinschauen.“
Prof. Rolf Kreienberg
 

Das Wichtigste ist laut Kreienberg, ohne Vorwurfshaltung vorsichtig nach den Ursachen zu fragen und dann die Patientin das Herz ausschütten zu lassen. Aber: „Keine Detektivarbeit versuchen!“ Das müsse man anderen, etwa der Polizei, überlassen. Und die darf nur eingeschaltet werden, wenn das Opfer das selbst entscheidet. Doch es kann Jahre dauern, bis sich die Opfer dazu durchringen.

Für den Mediziner müsse die ärztliche Leitung im Vordergrund stehen, betont der Gynäkologe: „helfen und sich kümmern“. Man sollte vermitteln, dass die Patientin nicht schuld ist an dem, was passiert ist, und versuchen, nicht den Kontakt zu verlieren, sowie ihr zu signalisieren, dass man für sie da ist und sie nicht alleine dasteht.

Gute Dokumentation ist auch Jahre später gerichtsverwertbar

Ganz wichtig aber ist eine gute Dokumentation der Befunde, die auch nach Jahren noch justiziabel ist. Für die gerichtsverwertbare Dokumentation müssen Befunde genau und objektiv beschrieben, aber nicht interpretiert, werden mit Angabe von Lokalisation und Größenverhältnissen. Die Befunde sollten auch fotografiert werden, am besten digital. Für eine objektive Dokumentation liegen dem Praxishandbuch eine „Med-Doc-Card©“ und speziell für Zahnärzte eine „Dent-Doc-Card©“ bei. Sie sollten neben die Befunde gelegt werden, wenn sie fotografiert werden.

Gewalt gegen Hilflose gibt es nicht nur in der Privatwohnung. So wird auch vermutet, dass es in Alten- und Pflegeheimen vermehrt zu Gewalttaten kommt, wozu auch die Unterversorgung zählt, wenn die alten Menschen zum Beispiel nicht genug zu trinken bekommen. „Ich kann nichts beweisen, aber man hat den Eindruck, das habe zugenommen“, so Kreienberg. Auch hier sind die betreuenden Ärzte gefordert. „Sie müssen sich die Patienten genau anschauen, ob sie etwa blaue Flecken haben oder andere Zeichen für Gewalt.“

Genau das ist das Entscheidende: „Man muss als Arzt hinschauen“, betont Kreienberg. „Man darf als Arzt das Thema Gewalt nicht verdrängen, sondern man muss immer dran denken, immer dran denken.“

Buchbesprechung: „Ärztliches Praxishandbuch. Gewalt“

Gewalt in der Partnerschaft, gegen Kinder, sexualisierte Gewalt gegen Frauen, behinderte Mädchen, Gewalt in Alten- und Pflegeheimen: Gewalt kommt häufig vor und Ärzte der unterschiedlichsten Fachrichtungen haben mit Gewaltopfern zu tun. Hilfestellung gibt dabei ein neues Buch: „Ärztliches Praxishandbuch. Gewalt“, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und dem Hessischen Sozialministerium. Es ist gerade im Verlag S. Kramarz erschienen.

In diesem Buch ist alles zusammengestellt, was niedergelassene Kollegen und auch Zahnärzte für Befundung, Dokumentation, Beratung und Betreuung von Gewaltopfern benötigen. Es enthält die offiziellen Handlungsempfehlungen der DGGG und der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) zum Umgang mit Opfern häuslicher Gewalt, die Handlungsempfehlungen der DGGG zum Umgang mit Patientinnen nach Genitalbeschneidung oder -verstümmelung sowie die Handlungsempfehlung der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin zum Vorgehen bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Es gibt Arbeitshilfen für die ärztliche Praxis und für Zahnärzte, Tipps zur Gesprächsführung und viele Dokumentationsbögen und Informationsblätter für Patientinnen.

Das Besondere sind 2 beigelegte sogenannte Doc-Cards, eine davon ist speziell für Zahnärzte, mit geeichten Farben und einem Millimetermaß, die beim Fotografieren von Befunden neben die Verletzung gelegt werden sollten. Das macht erhobene Befunde auch Jahre später noch gerichtsverwertbar.

„Ärztliches Praxishandbuch. Gewalt“. Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und Hessisches Sozialministerium. 283 Seiten mit 2 beigelegten Doc-Cards. Verlag S. Kramarz, Berlin, 2013. Euro 29,90. ISBN 9-783941-130128.

Referenzen

Referenzen

  1. „Ärztliches Praxishandbuch. Gewalt“.
    Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und dem Hessischen Sozialministerium. 2013, Verlag S. Kramarz

Autoren und Interessenkonflikte

Ursula Armstrong
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Kreienberg R: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.