Wann ist ein Mensch wirklich gestorben? Die Hirntod-Debatte geht weiter

Ursula Armstrong | 6. August 2013

Autoren und Interessenkonflikte

In Deutschland gilt: Die Organentnahme für die Transplantation darf nicht töten. Der Spender muss tot sein („dead-donor-rule“ oder „Toter-Spender-Regel). Als sicheres Todeskriterium wird in den meisten Ländern der Hirntod, der irreversible Funktionsausfall des gesamten Gehirns gewertet [1].

In den Richtlinien der Bundesärztekammer (BÄK) ist der Hirntod definiert als ein „Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung künstlich noch aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion“ [2]. Danach sind die Hirnfunktionen irreversibel verloren, wenn das Gehirn für wenige Minuten (max. 10 Minuten) ohne Blut- und Sauerstoffversorgung bleibt. Trotz künstlicher Beatmung und aufrechterhaltener Herztätigkeit ist das Gehirn dann von der Durchblutung abgekoppelt, seine Zellen zerfallen, auch wenn der übrige Körper noch künstlich durchblutet wird. Deshalb können Hirntoten intakte Organe für die Transplantation entnommen werden.

Nach den BÄK-Richtlinien müssen 2 Ärzte, die nicht zum Transplantationsteam gehören und mehrjährige Erfahrung in der Intensivmedizin oder Neurologie haben, den Hirntod unabhängig voneinander und zweifelsfrei diagnostizieren. Außerdem muss in einer klinischen Untersuchung nachgewiesen werden, dass alle Hirnstammreflexe und die Spontanatmung ausgefallen sind. Das ist wichtig, denn bei bewusstlosen Patienten sind die Hirnstammreflexe auslösbar, bei Hirntoten jedoch nicht.

Doch inzwischen ist die Debatte um das Hirntodkriterium für die postmortale Organspende neu entbrannt. Im Jahr 2008 hat ein Grundlagenpapier des US-Bioethikrates darauf hingewiesen, dass neue funktionale bildgebende Verfahren bei Hirntoten Aktivitäten in einzelnen Gehirnarealen nachgewiesen haben [3]. Der Hirntod sei kein Tod, sondern ein – wenn auch irreversibler – Teil des Sterbeprozesses. Deshalb sei eine naturwissenschaftliche Begründung des Hirntodkriteriums nicht mehr gerechtfertigt.

Seither wird auch in Deutschland über das Hirntodkriterium diskutiert. Der Deutsche Ethikrat greift die aktuelle Debatte z.B. in Ethik-Foren auf, etwa unter dem Titel: „Wann gilt der Mensch als tot?“

Transplantationsmediziner und Neurowissenschaftler halten nach wie vor am Hirntod als Kriterium für die Todesfeststellung fest. Ihr Argument: Mit dem Ausfall der Hirnfunktionen ist die den Menschen ausmachende körperlich-geistige Einheit für immer zerstört.

Gegner des Hirntodkriteriums sind überzeugt, dass die Patienten noch nicht tot sind, sondern in einer Phase des Sterbens, die noch dem erlöschenden Leben zugerechnet werden müsse. Viele Hirntote sehen aus wie tief Bewusstlose: Ihre Haut ist warm und rosig, es kann bei Männern zu Erektionen und Samenergüssen kommen. Außerdem kann bei hirntoten Müttern mit intensivmedizinischer Unterstützung die Schwangerschaft fortgesetzt werden („Erlanger Baby“). Und: Obwohl Hirntote als tote Spender gelten, werden vor der Organentnahme Schmerzmittel verabreicht.

 

Prof. Dr. Dieter Sturma
 

Das sind die unterschiedlichen Positionen in dieser Debatte. Die Frage des Todeskonzepts ist keine medizinisch-naturwissenschaftliche, sondern eine ethisch-philosophische. Im Zentrum stehen deshalb Bioethiker wie Prof. Dr. Dieter Sturma, Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik (IWE) und des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), beide in Bonn, sowie des Instituts für Ethik in den Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich. Im Gespräch mit Medscape Deutschland plädiert er für die Überarbeitung des Todeskriteriums und eine andere Sichtweise des Todes als die herkömmliche. Doch zurzeit sollte aus praktikablen Gründen am Hirntodkriterium für die postmortale Organspende festgehalten werden, meint er.

Medscape Deutschland: Herr Professor Sturma, wie stehen Sie als Bioethiker zum Hirntodkriterium?

Prof. Sturma: Die Todesfeststellung ist ein sehr, sehr komplexer Vorgang. Aus philosophischer Sicht empfiehlt sich, eine andere Frage vorzuschalten: Wann ist eine Person gestorben? Auf diese Weise ergibt sich eine andere Orientierung. Beschäftigt man sich mit dieser Frage, stellt man fest, dass es mehrere endgültige Abschiede gibt und wir es mit unterschiedlichen Antworten auf die Frage zu tun haben, die sich aber nicht ausschließen.

Der Hirntod ist eine Antwort. Auch eine Person, die ihre Mitteilungsfähigkeit verliert, etwa bei Demenz, ist in gewisser Hinsicht von uns gegangen. Gleichwohl ist sie moralisch und ethisch natürlich noch präsent. Selbst ein Leichnam ist ja keine bloße Sache. Wir behandeln ihn mit Ehrfurcht und Respekt.

Auf ideelle Weise können Personen im Übrigen auch ihren eigenen Tod "überleben". Sie bleiben als ideelle Person präsent. Sie überleben in der Erinnerung und in ihren Werken. Wenn man die Goldberg-Variationen auf dem Klavier spielt, nehmen wir in gewisser Hinsicht ein Verhältnis oder eine Einstellung zu der Person Johann Sebastian Bach ein. 

Medscape Deutschland: Wann also ist ein Mensch tot?

Prof. Sturma: Das kann ganz unterschiedlich gesehen werden: Mit dem Ende der Herz-Kreislauf-Funktion, mit dem Hirntod oder zum Zeitpunkt, der auf dem Totenschein steht. Die Frage ist, wo machen wir rechtlich und ethisch die Zäsur. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, der ja wahrlich Religion und Transzendenz sehr kritisch gegenüberstand, hat gesagt: Solange es Menschen gibt, werde ich in ihnen umgehen, auch wenn sie meinen Namen längst vergessen haben. Wir wären also gut beraten, den Tod zumindest sozial nicht als endgültiges Ende zu betrachten.

Medscape Deutschland: Ist ein Hirntoter demnach nicht tot?

Prof. Sturma: Die Mehrzahl der Neurowissenschaftler ist felsenfest vom Hirntodkriterium überzeugt. Sie sehen das Ende des bewussten Lebens als Zäsur. Das kann ich nachvollziehen.

Doch die Sache ist komplexer. Früher galt das Einsetzen des Verfalls als Todeskriterium. Das aber geschieht hier nicht. Hirntote reagieren noch. Denken Sie an das Lazarus-Syndrom: Beugt sich jemand über die hirntote Person, hebt diese die Arme, und es kann sogar zu einer Umarmung kommen. Die nachweisbaren Reaktionen von Hirntoten sind allerdings nichts grundsätzlich Überraschendes. Auch wenn der Körper zerfällt, gibt es nach wie vor noch biologische Prozesse.

Medscape Deutschland: Wie sollte man damit umgehen? Was rät der Bioethiker?

Prof. Sturma: Man sollte überlegen, wie man mit seinem eigenen Ende umgehen möchte, etwa so, wie man es auch für den Fall der Patientenverfügung tut. Dazu gehören auch Überlegungen zur Organspende. Man sollte die Möglichkeit erwägen, dass der eigene Tod anderen helfen könnte. Diese Entscheidung darf nicht unter Zwang erfolgen und muss aus dem eigenen Selbstverständnis heraus entwickelt werden.

Medscape Deutschland: Es bleibt also jedem selbst überlassen?

Prof. Sturma: Der Diskurs im sozialen Umfeld ist wichtig. Dann muss aber jeder selbst die Entscheidung fällen. Ich bin deshalb gegen eine Widerspruchslösung, die etwa in Österreich gilt und nach der es zulässig ist, einem Toten, etwa nach einem Unfall, ohne Zustimmung Organe zu entnehmen. 

Medscape Deutschland: Bei der Diskussion um das Hirntodkriterium geht es vor allem um die  Organentnahme für die Transplantation. Gibt es für die Transplantationsmedizin eine Alternative zum Hirntodkriterium?

Prof. Sturma: Das scheint nicht der Fall zu sein. Aber ich möchte den Hirntod kontextualisieren: Welche rechtliche Regelung auch immer getroffen wird, es sollte das Ganze von Sterbeprozess, Hirntod und sozialer Präsenz in den Blick genommen werden. Außerdem darf die Organentnahme nicht menschenverachtend erfolgen. Hier sind in der letzten Zeit viele Missstände bekannt geworden. Dazu gehören auch schlimme Fälle, in denen die Hirndiagnostik nicht richtig angewendet worden ist. 

Vor allem müssen wir eine andere Form des Umgangs mit den Angehörigen finden, die oftmals in ethisch bedenklicher Weise mit der Bitte konfrontiert werden, einer Organentnahme bei einem nahen Verwandten zuzustimmen. Auch den Angehörigen muss zugestanden werden, dass sie sich ohne Druck mit der Situation auseinandersetzen können. Leider ist es so, dass das Zeitfenster für die Entnahme sehr begrenzt ist. Zeitnot darf aber ethische Überlegungen nicht einfach ersetzen. Wir müssen auf jeden Fall über neue Wege des Umgangs mit den Angehörigen nachdenken. 

Medscape Deutschland: Es bleibt also beim Hirntodkriterium. Muss die Praxis der Todesfeststellung verbessert werden?

Prof. Sturma: Ja, das ist unbestritten. Die ethische Diskussion ist deshalb wichtig. Sie wird in Deutschland auch sehr ernsthaft und offen geführt.

Medscape Deutschland: Bisher gilt: Die Organentnahme darf nicht töten. Die Organe dürfen nur von toten Spendern entnommen werden. Wenn aber unklar ist, ob Hirntote wirklich tot sind, müssen wir uns von der „dead-donor-rule“ verabschieden?

Prof. Sturma: Das wäre sicherlich ein Weg. Diese Möglichkeit dürfte aber enorme Widerstände wecken. Es kämen Ängste auf, dass man die Organe immer früher entnehmen würde. Ethiker befürchten einen Dammbruch.

Medscape Deutschland: Was sollte also geschehen?

Prof. Sturma: Die Frage ist, ob es überhaupt einen Anlass gibt, die jetzige Form der Todesfeststellung grundsätzlich zu ändern. Die Mehrzahl der Neurowissenschaftler sieht einen solchen Anlass nicht. Die Praxis des Umgangs mit Sterben, Tod und Organspende kann auf jeden Fall verbessert werden.

Medscape Deutschland: Herr Professor Sturma, wir danken Ihnen für dieses Interview.

Referenzen

Referenzen

  1. Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften: „Im Blickpunkt: Organtransplantation“. April 2013.
    http://www.drze.de/im-blickpunkt/organtransplantation
  2. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: „Richtlinien zur Feststellungen des Hirntodes“. Dritte Fortschreibung 1997.
    http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Hirntodpdf.pdf
  3. The President’s Council on Bioethics: “Controversies in the Determination of Death: A White Paper by the President's Council on Bioethics”. 2008.
    http://bioethics.georgetown.edu/pcbe/reports/death/index.html

Autoren und Interessenkonflikte

Ursula Armstrong
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Sturma D: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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